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„So wie bisher kann es nicht weitergehen, auch in Brüssel wissen das alle“

Foto: Herr & Speer

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Vor  knapp drei Jahren hatten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer die Idee, dass jeder 18-Jährige in der EU ein Interrailticket geschenkt bekommt. Im letzten Jahr ging ihr Projekt in eine Pilot-Phase: Über einen Bewerbungsprozess gewannen Tausende Europäerinnen und Europäer eines der Gratistickets. Nun wollen Martin und Vincent-Immanuel bei einer Rundreise durch Europa junge Menschen zu ihren Einstellungen, Problemen und Wünschen für ein besseres Europa befragen. Für jetzt berichten die beiden von ihrem Trip. Dieses Mal besuchten sie Brüssel. 

Welche Orte wir besucht haben: Brüssel

Was wir erlebt haben: Treffen mit Vertreterinnen des EU-Parlaments, der EU-Kommission und Mitgliedsstaaten, Austausch mit jungen Menschen bei Diskussionsveranstaltungen.

Was wir gelernt haben: Vertrauensverlust und wachsender Populismus setzen die europäischen Institutionen gehörig unter Druck. Europa ist immer noch ein Kontinent der Ungleichheit. Das bleibt nicht ohne Folgen: Veränderungs- und Fortschrittswillen ist spürbar und macht die Institutionen offener für Ideen aus der Zivilgesellschaft.

Der Satz, den wir nicht mehr vergessen werden: „Auf der Reise hatte ich das erste Mal das Gefühl, ein Europäer zu sein“ (Max, 19 Jahre, Teilnehmer am #DiscoverEU Programm).

Brüssel, die Hauptstadt der EU. Über die Stadt gibt es viele Meinungen – auch und gerade von denen, die vermutlich noch nie hier waren. Ein Taxifahrer in Belfast, Nordirland, erzählt uns, er fühlt sich nicht europäisch, sondern vollkommen lokal verwurzelt. In London hören wir von Generationenkonflikten über europäische Identität. Kinder werfen ihren Eltern vor, ihnen per Brexit-Votum die Zukunft in einem offenen Europa verbaut zu haben. Und auf Twitter sehen nicht wenige die EU in den Händen einer „Brüsseler Mafia“. Europas Hauptstadt polarisiert.

Die EU, ein Elitenprojekt?

Diese Gegensätze sind auch in der Stadt zu spüren. Auf der einen Seite, ein aufgeräumtes Europaviertel mit gläsernen Fassaden und internationalem Flair, auf der anderen Seite bröckelnde Gebäude und Kriminalitätsprobleme in Stadteilen wie Molenbeek. All das nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Eine Stadt. Zwei Welten. Damit steht Brüssel in gewisser Weise auch für den aktuellen Zustand der Europäischen Union. Auf der einen Seite, wirtschaftliche Stärke, attraktive Austauschprogramme und eine international orientierte Gesellschaftselite. Auf der anderen Seite ökonomische Unsicherheit, fehlende Zugänge und erstarkende populistische Bewegungen. 190 von 510 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürgern, rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU, haben noch nie ihr Heimatland verlassen, besonders jene aus Südost- und Südeuropa. Dagegen stehen 34 Prozent der EU-Bevölkerung, fast ausschließlich aus westlichen und nordischen Staaten, die regelmäßig in Europa reisen oder an EU-Programmen teilnehmen. Ein Europa der Gegensätze. Die EU, ein Elitenprojekt?

Seit Ende der 90er Jahre haben populistische rechte wie linke Parteien in EU ihre Wahlergebnisse mehr als verdreifacht (von sieben Prozent auf rund 25 Prozent). Während 1998 noch rund 12,5 Millionen Einwohner der EU von einer Regierung mit Beteiligung populistischer Parteien regiert wurden, sind es heute 170 Millionen Menschen.

Die Fulltime-Europäerinnen und Europäer in den Brüsseler Institutionen, wie dem Parlament, der Kommission und den vielen angehörigen Organisationen, wissen über die Probleme unserer Zeit. „So kann es nicht weitergehen“, betont eine EU-Kommissionsmitarbeiterin uns gegenüber und weist auf den wachsenden Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Institutionen hin. Erst kürzlich haben Demonstranten der Gelbwestenbewegung in Brüssel Pflastersteine auf EU-Gebäude geworfen. Die zersplitterten Sicherheitsscheiben können wir noch heute sehen.

Das EU-Viertel in Brüssel wird oft als „Blase“ beschrieben. Aber immerhin ist es eine Blase, die sich über ihren Zustand bewusst ist. Und in der händeringend nach neuen Ideen und Lösungsansätzen gesucht wird. EU-Kommissionspräsident Juncker sagte einmal treffend: „Entweder wir schaffen es die europäischen Bürger wieder näher an Europa zu bringen – oder wir scheitern.“ In diesem Sinne sind die Zeiten gerade nicht die schlechtesten. Wenn es an allen Ecken und Enden quietscht, öffnen sich Institutionen für neue und innovative – ja manchmal auch: unorthodoxe – Ideen und Vorschläge.

Innerhalb von zwei Jahren wurde aus einer Idee ein EU-weites Pilotprojekt

Unser eigenes Projekt, die #FreeInterrail Initiative, ist ein gutes Beispiel dafür. Auf einer eigenen Interrailreise hatten wir 2014 die Idee, dass doch alle EU-Bürgerinnen und -Bürger zum 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket geschenkt bekommen sollten, um sich damit Europa zu erfahren – das würde europäische Identität stärken, Mobilitätsunterschiede verringern und Menschen an die EU-Institutionen heranführen.

Wir waren Studenten und die Idee vage. Trotzdem begannen wir öffentlich dafür zu trommeln. In den sozialen Medien, mit einer Petition, am Ende bei Treffen mit EU-Parlamentarierinnen und Parlamentariern verschiedenster Fraktionen. Wir waren selber überrascht, wie schnell die Türen geöffnet wurden. Innerhalb von zwei Jahren wurde aus einer Idee, die am Abendbrottisch entstand, ein EU-weites Pilotprojekt mit Namen #DiscoverEU. Rund 180 000 Bewerbungen gab es für die ersten 30 000 Tickets. Im Mai diesen Jahres geht das Projekt mit 35 000 weiteren Tickets in eine zweite Runde. Wenn der Rat zustimmt, wird das Programm ab 2021 mit 700 Millionen Euro ausgestattet. Das würde rund 1.5 Millionen jungen Menschen eine Europaerfahrung ermöglichen. Die Begeisterung, die Neugier und die Innovationsbereitschaft der EU-Kommission und des Parlaments bei diesem Projekt stehen für uns immer noch im starken Gegensatz zu der Art und Weise, wie wir diese Institutionen vorher wahrgenommen hatten.

Das wichtigste Learning für uns aus dem Projekt ist: Europäische Institutionen sehnen sich nach Ideen, nach innovativen Vorschlägen und besonders auch den Perspektiven der jungen Generation. So wie bisher kann es nicht weitergehen. Auch in Brüssel wissen das (fast) alle.

Die EU ist kein weit entferntes Bürokratieraumschiff, sondern ein Raum voller Möglichkeiten

Diese neue Offenheit zeigt sich mittlerweile selbst in Bereichen, die eigentlich nicht als besonders innovationsfreundlich gelten. Beispielsweise im Bereich öffentlicher Finanzen und Investitionen. Hier startete erst kürzlich das von jungen EU-Kommissionsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern entwickelte Finanzierungsinstrument „InvestEU“. Dabei soll ein Fond geschaffen werden, der zusammen mit dem Privatsektor, Investitionen in nachhaltige Infrastruktur, Forschung, Digitalisierung, kleine Unternehmen und soziale Innovation unterstützt. Man will damit gezielter, ökologischer und sozial verträglicher investieren. „Die EU kann mit diesem Projekt zum Leuchtturm werden und den Standard für nachhaltige Investments weltweit setzen“, sagt uns eine führende Kommissionsmitarbeiterin, die InvestEU mitentwickelte. „Wir in der EU können und sollten uns mehr zutrauen.“

Die Zeit in Brüssel hat uns gezeigt: Die EU ist kein weit entferntes Bürokratieraumschiff, sondern ein Raum voller Möglichkeiten. Manuela von der NGO „The Good Lobby“, die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Ideen auf dem Weg in den politischen Raum unterstützt, stimmt zu: „Jede und jeder in Europa kann Einfluss nehmen. Veränderung kann man schon mit einer Petition oder Gesprächen bewirken.“ Es bleibt viel zu tun. Die Europäischen Wahlen stehen vor der Tür und in der europäischen Hauptstadt wird schon jetzt der politische Anschnallgurt festgezogen – groß ist die Sorge vor einer neuen Welle von Populisten, die bald in das EU-Parlament strömen könnten. Gleichzeitig ist jetzt die Stunde der Visionärinnen und Visionäre da draußen: Europa braucht neue Ideen und Perspektiven. Jetzt ist der beste Moment, um mitzumachen und Neues zu wagen.

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