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„Europa, lass uns nicht allein“

Foto: Vincent-Immanuel Herr, Martin Speer

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Vor  knapp drei Jahren hatten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer die Idee, dass jeder 18-Jährige in der EU ein Interrailticket geschenkt bekommt. Im letzten Jahr ging ihr Projekt in eine Pilot-Phase: Über einen Bewerbungsprozess gewannen Tausende Europäerinnen und Europäer eines der Gratistickets. Nun wollen Martin und Vincent-Immanuel bei einer Rundreise durch Europa junge Menschen zu ihren Einstellungen, Problemen und Wünschen für ein besseres Europa befragen. Für jetzt berichten die beiden von ihrem Trip. Dieses Mal besuchten sie das Vereinigte Königreich. 

Welche Orte wir besucht haben: Belfast, Glasgow, Edinburgh, Bath, London

Was wir erlebt haben: Mehrstündige Zugfahrten quer durch Großbritannien, Austausch mit Brexit-Befürwortern und Gegnern auf der Straße, in Pubs und Cafés, zwei Diskussionsveranstaltungen an der Universität Bath, eine Protestaktion vor dem Britischen Parlament, Gespräche mit NGOs, Aktivistinnen und Wissenschaftlern.

Was wir gelernt haben: Großbritannien ist ein zutiefst gespaltenes Land auf der Suche nach sich selbst. Misstrauen gegenüber der etablierten Politik mischt sich mit der Sehnsucht nach alter imperialer Stärke. Zugleich sehen sich weite Teil der jungen Generation um ihre Zukunft gebracht. Europa darf Britinnen und Briten in dieser schweren Zeit nicht alleine lassen.

Der Satz, den wir nicht mehr vergessen werden: „There will be no Brexit.“ (Aussage einer Aktivistin auf den Straßen von Edinburgh)

Die letzten elf Tage haben wir an verschiedensten Orten im Vereinigten Königreich verbracht. Auf dem Land, in Städten, in Zügen und auf einem Schiff. Wir waren in Nordirland, Schottland und England. Eines ist klar: Der Brexit ist das dominierende, das einzige Thema. In den letzten eineinhalb Wochen haben wir ein Land erlebt, das am Rande eines kollektiven Nervenzusammenbruches steht. Die Frustration, die manchmal in Verzweiflung umschlägt, ist überall präsent: in Cafés, in den Vorortbahnen, vor dem Parlament, auf der Straße. Während in Deutschland und den anderen verbleibenden 26 EU-Ländern mehr und mehr Unmut, Ungeduld, teilweise offene Häme zu spüren sind, leiden die Britinnen und Briten mal laut, viel häufiger aber still vor sich hin. Existenzfragen werden gestellt: Wie steht es um meinen Job? Kann ich noch im Ausland mit Erasmus studieren? Wird die Ungleichheit weiter wachsen? Und was für eine Zukunft erwartet meine Kinder?

Nur ein Fünftel glaubt an einen Brexit-Erfolg

Wir erleben ein Land, dessen Regierung und Parlament offenkundig nicht mehr wissen, was zu tun ist. „Kein normaler Mensch versteht das mehr“, sagt uns Christine, Politikwissenschaftlerin an der Universität Edinburgh. Das hat ganz reale Auswirkungen. Das Vertrauen in die etablierte Politik ist implodiert. Zwei Drittel der britischen Bevölkerung fühlen sich nicht mehr repräsentiert durch die Parteien, nur 20 Prozent glauben noch daran, dass die Regierung einen guten Brexit abliefern kann. Ein Investmentexperte, den wir in der Bakerloo U-Bahnlinie in London kennenlernen, sagt uns: „Der Brexit ist der massive Elefant im Raum. Wir haben drei Jahre komplett verschleudert ohne auch nur irgendetwas dafür zu bekommen.“ Politikwissenschaftler Jan vom Think-Tank dpart bestätigt uns: „Es ist in Westminster genauso chaotisch, wie es aussieht.“ Aber auch die britischen Politikerinnen und Politiker leiden unter dem Druck und der Ohnmacht, einen Ausweg zu eröffnen – denn aktuell fehlen für wirklich alle Alternativen parlamentarische Mehrheiten. Tara, die im britischen Parlament arbeitet, fasst es so zusammen: „Die Parlamentarier werden alle langsam aber sicher wahnsinnig.“

Von außen mag das befremdlich wirken, ja auch Vorlage für Witze, Augenrollen oder Arroganz sein. Tatsächlich braucht das Land aber gerade jetzt Unterstützung von außen. Richtig ist: Das UK ist ein zutiefst gespaltenes Land, das sich in einem Referendum, das von Lügen, Halbwahrheiten und einer hetzerischen Presse geprägt war, für eine unsichere – wie wir finden: fatale – Zukunft entschieden hat. Der anstehende Brexit ist dabei nicht das eigentliche Problem, sondern Symptom. Die junge Soziologin Antje, die in London lebt, beschreibt es so: „Es ist so viel im Argen in diesem Land. Ob bei Bildung, Gesundheit, Infrastruktur oder Beschäftigung. Das Land fällt vor unseren Augen auseinander.“ Sie sagt weiter: „Bei mir zieht der Wind durch die Fenster und das warme Wasser fällt regelmäßig aus.“ Diese Zustände sind kein Einzelfall, wie wir immer wieder auf unserer Reise erfahren. Das Land hat mit wachsender Ungleichheit, Infrastrukturproblemen, latentem bis offenem Rassismus und einer absurden Sehnsucht nach den glorreichen Zeiten des Empires zu kämpfen. Zugleich droht der Bruch des Landes. Nicht nur in Irland erwartet man in den nächsten zehn Jahren ein Referendum, wie ein EU-Parlamentsmitarbeiter uns in Dublin sagt, sondern auch die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon fasst ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum ins Auge.

Richtig ist aber auch: Das UK ist ein europäisches Land mit großartigen Menschen. Wir stellen uns das wie in einer großen Familie vor. Wer kennt es nicht, dass einmal ein Familienmitglied aus Arroganz, Verliebtheit oder Depression einen Aussetzer hat, tage- und manchmal auch jahrelang mit schlechter Laune oder mit einem Kater herumhängt oder den dringenden Wunsch verspürt, einmal auszubrechen, alles hinzuschmeißen und alleine die Welt zu erkunden? Ist es so nicht auch mit Europa? Robin, der als Gartenplaner arbeitet und viel auf der Insel herumkommt, zieht einen ähnlichen Vergleich: „Mit UK und der EU ist es wie in einer Beziehung. Manchmal braucht man einfach eine Beziehungspause, um zu verstehen, was man an einander hat. Europa, lass uns nicht allein. Habt Geduld.“ 

Wir können beweisen, dass Europa mehr ist als eine Idee

Was die Situation für viele Britinnen und Briten (neben der ökonomischen Unsicherheit, der Identitätskrise und Frustration über die politische Klasse) so schlimm macht, ist gerade die Außenperspektive, das Wissen um den Ansehensverlust, die vielen Witze und Demütigungen aus Kontinentaleuropa. „Unser britischer Stolz ist tief gekränkt“, beschreibt Chris, der aus einer Bauernfamilie in Cornwall stammt, seinen Gefühlszustand.  

Das alles klingt nicht gut. Es kann aber auch eine Handlungsaufforderung für uns, die in der EU Verbleibenden, sein. Schließlich ist dies auch für uns eine besondere Situation. Wir haben die einzigartige Möglichkeit zu beweisen, dass Europa mehr als eine Idee ist. Wenn wir wirklich weiterhin ein Europa bauen wollen, das eine gute Zukunft für alle bieten soll, müssen wir uns am Umgang mit der bisher größten Herausforderung an die europäische Integration – dem Brexit – messen lassen. Bisher hat sich der Kontinent schwergetan mit grenzüberschreitender Solidarität. Schon 2016, vor dem Referendum, gab es zwar eine Anzahl kleinerer europäischer Initiative mit unterstützenden Signalen an die britische Bevölkerung, eine Massenbewegung ist daraus aber nie geworden.

Und mit einiger Wahrscheinlichkeit wird sich auch dieses Jahr nicht viel ändern. Die Briten werden mit oder ohne Deal rausgehen, den Rest der EU wird das mehr oder weniger kalt lassen. Was aber wäre, wenn wir es diesmal anders machen würden? Wenn wir die Tür zum Vereinigten Königreich – trotz und gerade wegen aller Schwächen – weit offen lassen würden, privat, in den Unternehmen, in den Universitäten, in der Politik? Wenn wir mit öffentlichen Kundgebungen und in den sozialen Medien unsere Unterstützung für das Land hinter dem Kanal kundtun würden?

Wir Deutschen sollten uns solidarisch zeigen

Zu abgehoben und idealistisch? Wir finden nicht. In einer Zeit, in der Politik polarisiert, entzweit und sich in endlosen Schleifen und leeren Ritualen zu verlieren droht, haben wir im UK gelernt, wie wichtig es ist, hinter die Politik und auf die Menschen zu schauen. Was uns am Ende in Europa zusammenhalten wird, ist die nicht die Zugehörigkeit zu einer Union, Unterschriften auf Verträgen oder Handelsabkommen, sondern viel mehr die Art und Weise, wie wir auf zwischenmenschlicher und zwischenkultureller Ebene miteinander umgehen. Wie in einer großen Familie, in der es an allen Enden kriselt und knirscht, man aber Ende doch wieder gemeinsam zu Abend isst. Jetzt zeigt sich, wie ernst wir es wirklich mit dem europäischen Projekt und nicht nur mit der EU meinen. Der Brexit steht für ein Europa der Spaltung, Renationalisierung und Alleingänge. Auch wenn nun das UK aussteigen wird, beziehungsweise aussteigen möchte; die Tendenzen, die erst dazu geführt haben – Politikverdrossenheit, Vorurteile, Populismus, soziale Ungerechtigkeit – gibt es auch anderenorts: in Italien, Ungarn, Polen, Dänemark, Österreich und Deutschland. Unsere Reaktion auf das Brexit-Debakel der Briten bekommt mir dieser Erkenntnis einen höheren Stellenwert – sie wird zur Blaupause der Demokratie- und Europaverteidigung.

Gerade als Deutsche sitzen wir zurzeit auf der bequemeren, der sichereren Seite. Aus diesem Privileg erwächst auch eine Position der Verantwortung. Lasst uns diese Verantwortung wahrnehmen und gerade jetzt die beste, die großzügigste und umsichtigste Haltung zeigen, die wir zeigen können. „Ich werde weiter dafür kämpfen, dass wir in der EU, in unserer europäischen Familie, bleiben“, sagt uns Madeleina, die als #EUSupergirl Aktivistin unermüdlich gegen den Brexit kämpft und längst zu einer Ikone geworden ist. Wir stimmen zu: Es geht nicht nur um die Zukunft von 66 Millionen Britinnen und Briten, es geht um unser aller Zukunft. Es geht um unsere gemeinsame Familie.

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