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„Wir haben das Vertrauen in Macron verloren“

Foto: dpa / Rafael Yaghobzadeh

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Vor  knapp drei Jahren hatten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer die Idee, dass jeder 18-Jährige in der EU ein Interrailticket geschenkt bekommt. Im letzten Jahr ging ihr Projekt in eine Pilot-Phase: Über einen Bewerbungsprozess gewannen Tausende Europäerinnen und Europäer eines der Gratistickets. Nun wollen Martin und Vincent-Immanuel bei einer Rundreise durch Europa junge Menschen zu ihren Einstellungen, Problemen und Wünschen für ein besseres Europa befragen. Für jetzt berichten die beiden von ihrem Trip. Dieses Mal besuchten sie Frankreich. 

Welche Orte wir besucht haben: Paris, Marseille

Was wir erlebt haben: Gespräche in Cafés und Restaurants, Treffen mit NGOs, EU-Vertretern und jungen Unternehmerinnen, eine Diskussions-Veranstaltung, Zugfahren quer durch Frankreich

Was wir gelernt haben: Frankreich durchlebt eine Zeit höchster Politisierung. Jede und jeder hat eine Meinung zur aktuellen Lage. Von Präsident Macron sind viele enttäuscht, weil er nicht die Erwartungen erfüllt. Darüber freuen sich die Rechtsextremen. Sie liegen in den Umfragen zur Europawahl vorn.

Der Satz, den wir nicht mehr vergessen werden: „Unser Land braucht eine neue Verfassung.“ (sagte uns ein junger Franzose in Marseille)

Aus Brüssel kommen wir nach Paris, die große Sehnsuchtsstadt. Vincent ist völlig begeistert und möchte gleich nach der Ankunft an die Seine, die

majestätisch an der Kathedrale Notre-Dame vorbeifließt. Ganz so idyllisch

wie das Touristenzentrum der Hauptstadt wirkt, ist es politisch und sozial

im Rest Frankreichs nicht. Die Gelbwestenbewegung hat auch in Deutschland für Schlagzeilen gesorgt. Darüber wollen wir mehr erfahren.

Zu allererst fällt uns auf: Egal welchen politischen Hintergrund sie haben –

alle unsere Gesprächspartnerinnen und -partner können die Beweggründe

der Gelbwesten für ihre Proteste zumindest in Teilen nachvollziehen. „Die

Gelbwesten erfahren Unterstützung bis weit ins bürgerliche Lager hinein“,

sagt uns Pierre, Politikwissenschaftler vom Jacqes Delors Institut, ein

europäischer Think Tank.

Franzosen gehen traditionell gern demonstrieren auf der Straße. Doch das

Ausmaß der Gelbwestenbewegung ist ein neues Phänomen. „Normalerweise halten solche Protestbewegungen nicht lange. Spätestens

in der nächsten großen Ferienzeit ist Schluss. Diesmal nicht. Selbst

Weihnachten konnte die Bewegung nicht aufhalten“, erzählt uns eine

junge Start-up-Gründerin aus Paris. Das mag auch daran liegen, dass es in

Frankreich seit einigen Jahren wieder um die großen Themen geht:

Gerechtigkeit, Demokratie, Zukunftsfähigkeit.

Ein Land wie Frankreich zu regieren, ist ein schwieriges Unterfangen

Daran kann auch ein vermeintlicher Überflieger wie Emmanuel Macron

nichts ändern. Im Gegenteil: Viele wirken enttäuscht, wenn wir über ihren

jungen Staatspräsidenten sprechen. Das überrascht uns, wird doch gerade

in Deutschland immer wieder sehr positiv über Macron geschrieben und

gesprochen. „Außenpolitisch macht Macron einen guten Job. In der

Innenpolitik sieht die Sache aber anders aus.“ Das hören wir auf unserer Reise immer wieder von Gesprächspartner*innen. Ein

Beispiel: im Bereich der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik hat Macron

sich mit #MakeOurPlanetGreatAgain in der Strahlkraft des Pariser

Klimaabkommens gesonnt. Doch bei der Umsetzung hapert es. Die

Erhöhung der Kraftstoffsteuer? Nach Protesten ausgesetzt. Das Verbot des

umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat? Vorerst

aufgeschoben. Der Ausstieg aus der Atomkraft? Frühestens ab 2035.

Aber auch Macrons Reformen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und

Sozialstaates stoßen auf breiten Widerstand. Frankreich verfügt über einen starken Sozialstaat, dessen Finanzierung ganze 31 Prozent des

Bruttoinlandsproduktes beansprucht. Zum Vergleich: Schweden und

Deutschland geben rund 26 Prozent dafür aus. Das hat hohe steuerliche

Abgaben in Frankreich zur Folge. Unter dem Druck der Gelbwesten-

Proteste war Macron gezwungen, Reformen auszusetzen und Steuern zu

senken, obwohl die wirtschaftliche Lage schwierig ist. Ein Land wie

Frankreich zu regieren, ist ein schwieriges Unterfangen, wie uns scheint.

Hinzu kommt, dass Macron sich mit hochgebildeten Beratern umgibt – die

Entfernung zum Volk nimmt dabei zu. Selbst seine Unterstützer unterstellen ihm mittlerweile eine gewisse Arroganz oder Abgehobenheit.

Alle Entscheidungen kommen von ganz oben. „I always feared that there

was an element of dictator in the way Macron did things“, sagte ein

protestierender Bürger erst kürzlich dem Guardian. Macron bleibt damit

ganz in der Tradition von Charles De Gaulle. Aber passt das noch zu 2019?

Kein Wunder, dass viele Französinnen und Franzosen mehr Mitbestimmung und Basisdemokratie fordern.

Als Deutsche zeigt sich uns in Frankreich eine Gesellschaft, die deutlich

erschüttert ist und gleichzeitig zu großen Veränderungen bereit ist – oder

dies zumindest behauptet. Bereits im Präsidentschaftswahlkampf 2017

schlug der ultralinke Kandidat Jean-Luc Melenchon vor, das Land von

Grund auf neu zu denken und so die aktuelle fünfte Republik zugunsten

einer sechsten zu beenden. Dazu muss man wissen: Sobald es in

Frankreich zu einer tiefgreifenden Verfassungsänderung kommt oder zu

einer ansonsten einschneidenden Zäsur, wird quasi eine neue Republik

gegründet. Das letzte Mal war das 1958 der Fall. Damals führte Charles De

Gaulle die Präsidialrepublik ein, mit starkem Staatsoberhaupt. Das ist

allerdings lange her. Der Ruf nach einer Erneuerung wird lauter – nicht nur bei den Gelbwesten. Florian aus Marseille hat sich die Proteste selbst

angesehen, würde sich allerdings nicht selbst als Gelbwestler bezeichnen.

Er sagt uns: „Die aktuelle Verfassung ist an ihre Grenzen gekommen. Sie

ist nicht bereit für die Herausforderungen des 21 Jahrhunderts.“ In

Deutschland kennen wir so eine Debatte nicht. Politikverdrossenheit – nun gut, aber gleich das ganze System umwerfen? Darüber spricht dort keiner. Irgendwie ist das in Frankreich auch erfrischend – es wird sich getraut, Altbekanntes neu zu denken.

Weniger erfrischend ist allerdings die zunehmende Akzeptanz des Front

National – oder Rassemblement National, wie die rechtsnationale Partei

jetzt heißt. In den Prognosen zur Europawahl liegt die Partei zurzeit auf

Platz eins, noch vor Macrons „En Marche“. An der Spitze der Rechtsextremen für die Europawahl steht der 23-jährige Jordan

Bardella, der mir seiner scharfen Rhetorik seine politischen Gegner vor

sich her treibt.

Rechte Demagogen hat man in den letzten Jahren schon viel zu oft unterschätzt

Ein junger Mann in Paris sagt uns: „Erst hatten wir einen Konservativen,

Sarkozy, dann einen Linken, Hollande, jetzt einen Liberalen, Macron. An

den wichtigen sozialen Fragen hat sich wenig getan.“ Die Rassemblement

National profitiert von der Schwäche Macrons. Ebenfalls in Paris erzählt

uns eine junge Französin: „Aktuell sehe ich kaum noch eine andere

Möglichkeit, als dass Marine Le Pen nächste Staatspräsidentin wird.“

Andere widersprechen und glauben, dass es immer eine Mehrheit gegen

Le Pen geben werde. Wir sind uns nicht ganz so sicher. Rechte Demagogen hat man in den letzten Jahren schon viel zu oft unterschätzt.

Wie auch in anderen Ländern, so werden in Frankreich die EU-Wahlen im

Mai entscheidende Weichen für die Zukunft stellen. Klar ist: Die politischen Entwicklungen Frankreichs haben Auswirkungen auf den ganzen Kontinent. Das Land ist groß und einflussreich – und politisch in Bewegung. Die neue paneuropäische Partei VOLT wurde von einer Französin mitgegründet, Colombe Cahen-Salvador. Colombe tritt im Mai ebenfalls zur EU-Wahl an. Als wir sie in Paris treffen, spüren wir das europäische Feuer in ihr brennen. „Am Anfang galt Volt als etwas verrückte Idee. Viele haben daran nicht geglaubt. Aber jetzt, zwei Jahre später, gibt es uns schon in 32 Ländern“, sagt sie auf einer Veranstaltung. Diese Energie für Europa – das ist eben auch Frankreich im Jahr 2019.

In Frankreich lernen wir, dass es essentiell ist, die Debatte über die Zukunfteines Landes und eines Kontinents offen und in der Breite zu führen. Weniger Hinterzimmergespräche, mehr öffentliche Foren. Dabei muss es allerdings zivil bleiben. Frankreich zeigt auch die Gefahr, die von einer polarisierenden Gesellschaft ausseht. Gewalt auf den Straßen, wie durch Gelbwesten geschehen, ist keine Lösung. Schaffen es die moderaten Kräfte im Land nicht, den Diskurs zurück an den Tisch der Vernunft zu bringen, droht Frankreich nach der Europawahl und mit der nächsten Präsidentschaftswahl ein böses Erwachen. Womöglich mit einer Präsidentin Le Pen.

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