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#HowAreYouEurope: Bericht aus Portugal
Vor knapp drei Jahren hatten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer die Idee, dass jeder 18-Jährige in der EU ein Interrailticket geschenkt bekommt. Im letzten Jahr ging ihr Projekt in eine Pilot-Phase: Über einen Bewerbungsprozess gewannen Tausende Europäerinnen und Europäer eines der Gratistickets. Nun wollen Martin und Vincent-Immanuel bei einer Rundreise durch Europa junge Menschen zu ihren Einstellungen, Problemen und Wünschen für ein besseres Europa befragen. Für jetzt berichten die beiden von ihrem Trip. Dieses Mal besuchten sie Portugal.
Welche Orte wir besucht haben: Lissabon
Was wir erlebt haben: Bus und Zugfahrten quer durch Lissabon, Gespräche mit Sozialunternehmerinnen und -unternehmern, Treffen mit dem regionalen EU-Parlamentsbüro und einer engagierten Journalistin, Austausch mit Leuten in Cafés und Restaurants.
Was wir gelernt haben: Portugal wurde von der Finanzkrise hart getroffen. Hunderttausende Menschen wanderten aus. Mit Engagement, frischen Politikansätzen und einer wachsenden Start-up-Szene kämpfte sich das Land aus der Krise.
Der Satz, den wir nicht mehr vergessen werden: „Für uns war die Finanzkrise eine Chance“ (Catarina, Journalistin beim öffentlich-rechtlichen portugiesischen Rundfunk)
Wer schon einmal in Portugal war, weiß: Es ist nicht leicht dorthin zu kommen – zumindest nicht ohne Flugzeug. Das westlichste europäische Land ist erstaunlich schlecht angebunden an den großen Nachbarn Spanien. Wir schlagen uns per Zug nach Sevilla durch, dann mit dem Bus nach Faro im Süden Portugals und schließlich mit einem weiteren Zug nach Lissabon. Schon die Ankunft in der Hauptstadt ist beeindruckend. Eine über zwei Kilometer lange Hängebrücke, die Brücke des 25. April, streckt sich über die Bucht, in der die Stadt angesiedelt ist. Irgendwie hatten wir uns Lissabon kleiner vorgestellt – tatsächlich zeigt sich uns eine große und ausläufige Stadt mit 500 000 Einwohnern, sehr unterschiedlichen Vierteln und belebten Straßen.
Wir wissen bisher eigentlich nicht so viel über das Land. Vor ein paar Jahren soll hier die Finanzkrise ordentlich eingeschlagen haben – hohe Jugendarbeitslosigkeit war nur eine der Folgen. Carolina, Gründerin des Sozialunternehmens Sapana, sagt uns dazu: „Die Arbeitslosigkeit nach der Finanzkrise hat alle getroffen, egal wie gut qualifiziert oder aus welcher Schicht.“ Die Zahlen sind dramatisch. Anfang 2013 waren über 40 Prozent der unter 24-Jährigen arbeitslos. Eine ganze Generation junger Leute ging daraufhin ins Ausland. Hundertausende junge Menschen haben nach der Finanzkrise das Land verlassen, besonders die gut qualifizierten Leute – viele sind nie zurückgekommen.
Besonders junge Menschen sind aktiv geworden
Dennoch ist die Lage 2019 eine andere als noch 2014. Die Dinge scheinen sich gebessert zu haben. Die Jugendarbeitslosigkeit ist Anfang 2019 auf 16 Prozent gefallen und das Forbes Magazine schreibt von einem „Start-up-Boom“ in der Hauptstadt.
Besonders junge Menschen sind aktiv geworden – nicht nur ökonomisch, auch politisch. Catarina, eine Journalistin, bestätigt das: „Die Leute sind seit der Krise wacher und aktiver geworden […] Auch in kleineren Ortschaften beobachte ich, wie junge Leute die Gesellschaft mitgestalten wollen.“ Und fügt dann noch hinzu: „In Portugal finden wir immer eine Lösung.“ Diese Einstellung scheint tief verwurzeltes kulturelles Erbe des Atlantikstaats zu sein. Und zwar schon lange. 1755 verwüstete ein gewaltiges Erbeben Lissabon, löste einen Tsunami aus und entfachte schließlich ein verheerendes Feuer. Ein Großteil der Stadt wurde zerstört, Zehntausende Menschen kamen ums Leben.
Das Ganze gilt als eine der schwersten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte. In Portugal wird aber nicht nur dem Erdbeben gedacht, sondern auch der patenten Reaktion seitens der Stadtbevölkerung damals. Dem damaligen Premierminister, Sebastião José de Carvalho e Melo, wird die Aussage zugeschrieben, die zur Regierungsmethode wurde: „Und nun? Beerdigt die Toten und ernährt die Lebenden.“ Man begann schnell wieder mit dem Aufbau und der Neugestaltung der Stadt.
Diese Einstellung – trotz der Katastrophe nach vorne zu schauen, das Beste aus etwas Schlimmen zu machen und sofort an den Wiederaufbau zu gehen – und Mentalität prägt portugiesische Kultur noch heute, so ist unser Eindruck. Wir sehen darin Parallelen zur Finanzkrise. Das Land wurde wachgerüttelt, die Ärmel hochgekrempelt und Lösungen gesucht. Portugal hat seitdem einige Ideen umgesetzt, die auch anderen europäischen Ländern ganz gut bekommen könnten. So gibt es seit 2017 ein Citizens Budget – also einen bestimmten Teil des nationalen Budgets, auf den sich zivilgesellschaftliche Projekte bewerben können.
Diesen Ansatz gibt es auch auf regionaler Ebene. Beispielsweise mit dem Bürgerbudget in Lissabon seit dem Jahr 2008. Bürgerinnen und Bürger können Ideen einreichen oder für Verbesserungen in ihrem Stadtbezirk werben. Auf der Website, per SMS oder im Bürgerbüro kann man dann für Projekte abstimmen und die beliebtesten Initiativen erhalten Fördermittel. Neue Fahrradwege in Lissabon wurden beispielsweise über diese Methode beworben, finanziert und ausgebaut. Insgesamt wurden über 6000 Projekte eingereicht, 120 ausgewählt, rund 33 Millionen Euro investiert.
Die Zahl der Auswanderungen geht leicht zurück
Dennoch bleibt viel zu tun. Nach wie vor leidet das Land unter einem Braindrain vieler gut ausgebildeter junger Leute, die in die Niederlande, ins UK oder nach Deutschland auswandern. „Wir lieben unser Land, unsere Familien, das Meer, aber viele von uns haben keine andere Chance, als einen Job im Ausland anzunehmen“, sagt uns Barbara, aus dem EU-Parlamentsbüro in Lissabon. Die Zahlen der Auswanderungen sind zwar seit der Finanzkrise leicht zurückgegangen, die Bilanz bleibt aber negativ. 100 000 Menschen will die portugiesische Regierung mit Förderprogrammen und Gründerzuschüssen ins Land zurückholen.
Gleichzeitig hat die Regierung in einigen Punkten noch Nachholbedarf. Thiago hat einen gut bezahlten Job verlassen hat, um ein Sozialunternehmen zu gründen. Das soll Therapietermine bei Psychologen auch an diejenigen vermitteln, die sich das sonst nicht leisten könnten. Er erzählt, dass es in Portugal keine Steuervergünstigungen für soziale Unternehmen gibt.
Insgesamt muss sich Portugal also dem Problem stellen, das auch andere europäische Länder der geographischen Peripherie betrifft (das Baltikum, der Balkan, Süditalien, Griechenland): Wie bleibt man als Wohnort attraktiv in Zeiten, in denen alles in die Mitte strebt, in die Industriezentren und großen Metropolen Zentraleuropas? Die ultimative Lösung gibt es auch in Portugal noch nicht. Aber uns scheint es, als hätte das Land die richtigen Ansätze: Innovationsfreude, partizipative Demokratie und eine dynamische junge Generation.