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Die nächtliche Ausgangssperre sollte bestehen bleiben

Foto: Adobe Stock; Bearbeitung: jetzt

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Zuallererst möchte ich sagen: Ich hasse die Ausgangssperre. Innbrünstig. Ich wohne in Bayern, wo sie nach wie vor ab 21 Uhr gilt, und keine Corona-Maßnahme nervt mich so sehr wie diese. Sie schränkt mich ein, sie bevormundet mich, sie nimmt mir das weg, was mir am meisten Spaß macht: mich abends mit Freund*innen zu treffen, zu essen und zu trinken, zu lachen und zu diskutieren. Und genau deshalb will ich, dass sie bestehen bleibt. 

Doch am Montag hat der Verwaltungsgerichtshof in Baden-Württemberg die nächtliche Ausgangssperre gekippt. Und Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) plädiert in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen dafür, diese Maßnahme endlich auch in Bayern aufzuheben, denn sie sei nicht mehr verhältnismäßig. Ich möchte ihm entgegenschreien, dass angesichts neuer Corona-Mutanten, die deutlich ansteckender sind, genau diese Maßnahme bei jungen Menschen besonders hilfreich ist. Dass sie zu kippen fatal wäre und nur Wochen später die Infektionszahlen womöglich wieder in die Höhe schießen würden. Leider weiß ich mittlerweile, wie schmerzhaft es ist, wenn dieses Virus ein Familienmitglied plötzlich aus dem Leben reißt. Und genau das könnte deutlich häufiger passieren, wenn die Ausgangssperre gekippt wird und die Ansteckungszahlen dadurch steigen. 

Junge Erwachsene befürworten die Corona-Maßnahmen generell eher als ältere. Doch die Ausgangssperre sorgt bei vielen von uns für Unverständnis. Die jüngsten Diskussionen über die Aufhebung der Ausgangssperre zeigen, wie emotional sie gesehen wird. Auch in meinem Freundeskreis, der eigentlich ausnahmslos von der Wirksamkeit der Maßnahmen überzeugt ist und eher für Verschärfungen als für Lockerungen plädiert, traf die nächtliche Ausgangssperre vor allem auf Unverständnis. Vollkommen wirkungslos und unlogisch sei sie. Was macht es schon für einen Unterschied, ob ich um 21 Uhr oder um 23 Uhr zuhause bin? Hat ja eh alles zu, was soll nach 21 Uhr schon groß passieren?

Aus anderthalb Metern Abstand wird ein Küchentischbreite. Aus einem gesunden Menschen wird vielleicht ein kranker

Doch die Frage ist in den meisten Fällen nicht, ob man um 23 Uhr oder halt zwei Stunden früher vom gemeinsamen Abendessen mit den Freund*innen zurückkommt, sondern ob man überhaupt das Haus verlässt. Denn das Ziel der Maßnahme ist es nicht, den Aufenthalt in fremden Haushalten zu verkürzen, sondern ihn auf ein Minimum herunterzuschrauben. Und das funktioniert und ist sinnvoll. Denn gerade im Winter werden die sozialen Kontakt von draußen nach drinnen verlagert. Aus einem Feierabendbier im Park wird ein Abendessen in einem kleinen Raum. Aus anderthalb Metern Abstand wird ein Küchentischbreite. Aus einem gesunden Menschen wird vielleicht ein kranker. Und noch einer. Und noch einer. 

Der erste Abend der Ausgangssperre war ein Champions-League-Spieltag. Ich hatte mich mit einem guten Freund verabredet, um bei ihm das Spiel anzuschauen. Kurz bevor ich losgehen wollte, fiel mir ein, dass es jetzt eine Ausgangssperre gab und der Anpfiff um 21 Uhr im krassen Konflikt mit meinen Möglichkeiten stand, wieder nach Hause zu kommen. Ich blieb also zuhause. Seitdem gab es vielen Situationen, in denen die Ausgangssperre einen vielleicht sehr schönen, aber potenziell gefährlichen Abend bei Freud*innen verhindert hat. Und auch von anderen hören ich Ähnliches: Dates finden bei deutlich geringerem Ansteckungsrisiko draußen statt, weil ein gemeinsames Abendessen gleich mit der Frage verbunden wäre: Bleibst du dann auch über Nacht? Fernsehabende im Freundeskreis, bei denen Sport oder „Germany’s Next Topmodel“ laufen würde, finden nicht statt. Es gibt keine Spieleabende unter der Woche.

Oft wird argumentiert, dass es vollkommen unlogisch sei, dass man nun nicht mehr nach 21 Uhr alleine draußen spazieren gehen dürfe. Dieses Argument ist naiv. Denn niemand will das Spazierengehen nach 21 Uhr verhindern. Sondern dass Menschen genau das als Ausrede nutzen, um von Freund*innen oder einem Date abends nach Hause zu gehen. Der Anteil an Menschen, die keinen Hund haben oder aus einem anderen triftigen Grund von der Ausgangssperre befreit sind und nach 21 Uhr im Schneeregen ernsthaft einen gemütlichen Spaziergang machen, dürfte sehr klein sein. Auf diese kleine Gruppe muss nicht die ganze Nation Rücksicht nehmen – und diejenigen, die bis nach 21 Uhr arbeiten müssen und tatsächlich noch ein bisschen Frischluft brauchen, dürfen ja von der Arbeit nach Hause spazieren. 

Eltern müssen es irgendwie schaffen, Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bringen, Schüler*innen müssen mit dem Home-Schooling klarkommen, Senior*innen vereinsamen in Heimen, weil sie kaum jemand besuchen kann. Die Ausgangssperre dagegen trifft vor allem junge Menschen. Sie trifft uns da, wo es effektiv ist. Wer jung ist, neigt dazu, zu rebellieren und Vorschriften zu hinterfragen. Doch diese nicht unbedingt schlechte Eigenschaft und der Drang, raus und unter Leute zu gehen, können in einer Pandemie zur Gefahr werden. Genau deshalb will ich, dass die Ausgangssperre bleibt – auch wenn ich sie hasse. 

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