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„Diktatur, Vertreibung, Exil! Das macht einen zerrissen“

Ronya Othmann ist Autorin und Journalistin.
Foto: Privat

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Ronya Othmann, 27, ist Autorin und Journalistin. Im vergangenen Jahr gewann sie den Publikumspreis beim renommierten Bachmann-Lesewettbewerb, bis Ende August veröffentlichte sie gemeinsam mit Cemile Sahin die Kolumne „Orient Express“ in der taz. Nun erschien mit „Die Sommer“ der Debutroman der gebürtigen Münchnerin. Darin erzählt Othmann in lebendigen Bildern von der Vertreibung der jesidischen Kurd*innen aus Syrien, vom Exil und von den Erinnerungen der Geflüchteten an ihre Heimat.

Die Protagonistin Leyla ist eine junge Jesidin, die zwar in Deutschland aufwächst, deren Wurzeln aber in Nordsyrien liegen – genau wie bei Othmann selbst: Auch sie ist Jesidin und verbrachte die Sommermonate oft mit ihrer kurdischen Familie in Nordsyrien. Zuletzt war sie vor etwa zehn Jahren dort, dann begann 2011 der Krieg und damit auch die Schreckensnachrichten: 2014 verübte der IS einen Völkermord an den jesidischen Kurd*innen, eben jener ethnisch-religiösen Minderheit, die ihr Siedlungsgebiet im nördlichen Irak, der südöstlichen Türkei und in Nordsyrien hat. Damals wurden Schätzungen zufolge 10 000 Menschen ermordet und in Massengräbern verscharrt. Im Interview spricht Ronya Othmann über Identität, die Auswirkungen der Diktatur und das Geschichtenerzählen.

jetzt: Die Vita der Protagonistin Leyla ist durchaus ähnlich zu deiner eigenen. Wie viel Ronya steckt denn in Leyla?

Ronya Othmann: Ich habe das Buch geschrieben, also schon etwas. Ich hatte etwas zu erzählen, aber ich wollte nicht direkt über mich schreiben, sondern nur über etwas, das ich kenne. Dabei bietet Leyla mir natürlich ein bisschen Abstand von diesem Thema.

Das Buch ist in einem politischen Setting angesiedelt, aber trotzdem auch persönlich. Ein Spagat?

Nein. Das Ding ist, dass ich „Die Sommer“ in kleinen Textchen angefangen habe zu schreiben und das auch schon vor sechs Jahren. Für mich ist es nichts Besonderes, über Politisches zu schreiben, weil das – genau wie bei Leyla – mein Leben und das meiner Familie geprägt hat. Eine Diktatur geht ja auch bis in den kleinsten Familienteil rein. Beispielsweise, wenn man in einem Land lebt, in dem jeder und auch jedes Familienmitglied ein Spitzel sein kann. Das macht natürlich etwas mit einem und bedingt, wie man lebt und wem man vertrauen kann. Wenn man verbotene Bücher hat, Bücher auf kurdisch, wen bringt man damit in Gefahr? Und das Politische hat auch ganz konkret bestimmt, dass mein Vater nach Deutschland gehen musste. Das Politische geht also ins Private rein und das kann man nicht voneinander trennen.

Deine Mutter ist Deutsche, dein Vater Kurde mit jesidischem Hintergrund. Wie vereinst du diese beiden Kulturen in deinem Leben?

Es ist gar nicht so schwer. Man lebt einfach diese hybride Identität, man switcht ganz viel. Das lernt man im Alltag. Aber das ist ein Punkt bei dem Roman, nach dem die Leute oft fragen. „Ach, zwei Kulturen? Klar, Zerrissenheit!“ Nee, das ist für mich nicht die Schwierigkeit: Diktatur, Vertreibung, Exil! Das macht einen zerrissen.

Aus der Distanz beurteilt: Welche Veränderungen hast du in Nordsyrien in den vergangenen Jahren beobachtet?

Man sollte nicht immer so ein Ding daraus machen von wegen: Vor dem Krieg war alles schön und jetzt ist alles kaputt. Die vierzig Jahre andauernde Diktatur hat ja erst zu diesem Zustand heute geführt – der Krieg kam ja nicht aus dem Nichts. Der kam von Assad und durch Assad wurden auch die Islamisten groß.

„Der Ort ist jetzt von türkischem Militär besetzt, der Großteil der Kurd*innen wurde vertrieben“

Aber gibt es eine Veränderung, an die du öfter denken musst?

Afrin, dort war ich in meiner Kindheit. Der Ort ist jetzt von türkischem Militär besetzt, der Großteil der Kurd*innen wurde vertrieben. Jesid*innen gibt es kaum noch, jesidische Friedhöfe wurden mit Bulldozern plattgemacht, Jesid*innen verschleppt, vergewaltigt. Es hat in der Region eine Umschreibung stattgefunden. Es gibt aber noch Kurd*innen dort, konkret in der Selbstverwaltung, die immer noch von vielen Seiten bedroht ist.

Selbstverwaltung: Meinst du damit Rojava, die autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, die sich vor etwa sieben Jahren gegründet hat?

Genau, Rojava. Also ein Teil ist da auch vom türkischen Militär besetzt. Und auch da findet eine Umschreibung statt: Die Amtssprache ist jetzt, wie allgemein in den besetzten Gebieten, türkisch. Kurdisch durfte da auch unter Assad nicht gesprochen werden. Nun werden Araber*innen in dieser Gegend angesiedelt. Durch das türkische Militär und die islamistischen Terrorgruppen wird die Bevölkerung islamisiert. Dabei ist die ganze Region multi-ethnisch und multi-religiös.

In deinem Roman gibt es keinen Erzähler, du lässt die Figuren, etwa die Oma, den Vater oder Leyla selbst seitenlang ihre Geschichten aus der Ich-Perspektive erzählen. Warum ist die mündliche Überlieferung für Jesid*innen so etwas derart Wichtiges?

Religiöses wird bei uns mündlich weitergegeben. Von den Qewals zum Beispiel, die von Dorf zu Dorf gezogen sind und die religiösen Texte rezitiert haben. Aber auch weltliche, literarische Texte wurden mündlich weitergegeben. Die großen Epen gibt es daher auch in verschiedenen Versionen und jeder erzählt auf seine Art. Inzwischen ist es aber manchmal auch aus Not so: Wenn man im Exil ist, erzählt man, weil man nur noch die Erzählungen hat. Der Vater in meinem Roman – seine Geschichte ist tatsächlich auch sehr nahe an meinem Vater – hat das mündliche Erzählen sehr kultiviert. Das geht so weit, dass er auch schon Kunstpausen macht und die Geschichte eine bestimmte Dramaturgie hat. Erzählen ist aber auch wichtig, weil einen in einer Diktatur alles, was man auf Papier hat, gefährden kann. Alles, was man nur im Kopf hat, ist sicher.

Du beschreibst im Roman, wie die Rechte von Kurd*innen beschnitten werden. Das beginnt damit, dass den Kurd*innen lange die Staatsbürgerschaft in Syrien verweigert wurde. Aber auch in anderen Ländern wie der Türkei wurden sie ausgegrenzt, etwa indem die Türkei 1938 kurdische Namen verbot. Inwieweit prägt das das Leben der Kurd*innen bis heute?

Das prägt sie von den Herkunftsländern bis in die Diaspora. Im Iran zum Beispiel sind die meisten Menschen, die hingerichtet werden, Kurd*innen, im Irak wurde ein Genozid, die Operation Anfal, an den Kurd*innen verübt, in der Türkei wurden und werden viele Kurd*innen gezwungen, sich zu assimilieren, dürfen etwa ihre Muttersprache nicht mehr sprechen. Solche Erfahrungen sind sehr traumatisch. Kurdisch ist auch in Syrien nicht erlaubt zu sprechen. Das muss man sich mal vorstellen: Bei vielen, die Migrationshintergrund haben, ist das so, dass sie in ihr zweites Land fahren und dann sprechen sie dort ihre Sprache. Bei uns war das so, dass wir nach Syrien gefahren sind, aber wir sind da nicht als Kurd*innen oder Jesid*innen hingefahren. Kurd*innen und Jesid*innen galten in Syrien als adschnabi, Ausländer. Man sprach überall arabisch, in der Schule, auf den Ämtern. Die Straßenschilder, die Städtenamen sind arabisch, obwohl die Region kurdisch ist.

Sprichst du eigentlich arabisch?

Ich habe es kurz gelernt, aber das meiste vergessen. Ich würde es gerne können.

Kann es sein, dass dein Buch irgendwann auf Kurdisch erscheint?

Schwer zu sagen. In der Türkei gibt es kurdische Verlage, deren Bücher oft zensiert wird. Da wird es zu hundert Prozent nicht erscheinen. Ich wurde in der Türkei ja auch angezeigt. In Syrien sind die Chancen besser, aber ich weiß es nicht. Unter dem Assad-Regime so sicher nicht. In der türkischen Besatzung auch nicht, in Rojava oder der Autonomieregion Kurdistan (Irak) kann ich es mir vorstellen, wenn sie die Ressourcen haben.

„Ich weiß, dass in Syrien viele Bücher illegal heruntergeladen werden“

Eigentlich ein Klassiker: Regierungskritische Bücher kommen erst viel später im adressierten Land raus.

Oder halt als PDF. Ich weiß, dass in Syrien viele Bücher illegal heruntergeladen werden. Gott sei Dank haben wir Internet! Früher mussten die Leute dafür in den Libanon, der galt vor dem Bürgerkrieg als eine sehr gute Literaturquelle.

Der Völkermord an den Jesid*innen jährte sich am 3. August zum sechsten Mal – und viele große deutsche Medien haben den Tag zum Anlass genommen, noch einmal über den Genozid zu berichten. Wie wichtig ist es, dass ein Jahrestag an deren Schicksal erinnert?

Das finde ich sehr wichtig. Es sollte jedoch nicht nur am 3. August passieren. Ich finde eh, dass dieser Genozid viel zu sehr aus der öffentlichen Wahrnehmung weggeschoben wird, als hätte es nichts mit hier zu tun. Es scheint, in Deutschland gewöhnt man sich – wenn man denn nicht familiären oder persönlichen Bezug hat – sehr schnell an solche Gewaltnachrichten. Dabei ist in einer globalisierten Welt nichts weit weg. Die Täter kommen zum Beispiel zum Teil sogar von hier. Und auf der anderen Seite leben viele Jesid*innen und Überlebende des Genozids hier.

In Deutschland lebt die größte jesidische Diaspora.

Vor dem Genozid war das schon so und nach dem Genozid sind ja auch viele nach Deutschland gekommen, Nadia Murad zum Beispiel, die Friedensnobelpreisträgerin (2018; Überlebende des Völkermords an den Jesid*innen 2014, Anm. d. Red.) kam mit einem Sonderkontingent 2015 nach Baden-Würtemberg.

Hoffst du, dass du durch dein Buch viele Menschen über Hintergründe der Region aufklären und somit einen wichtigen Blickwinkel bieten kannst, der über einen Gedenktext einmal im Jahr hinaus reicht?

Aufklären mache ich eher durch journalistische Texte, durch meine Kolumnen. Es ist nicht aktivistisch für mich, einen Roman zu schreiben. Es wird oft so gedeutet und ja, es ist schon ein Widerstand gegen Narrative des Assad-Regimes zum Beispiel. Aber es geht eher um das Erinnern und Erzählen. Fernab des Politischen ist Leyla einfach eine Figur, die Menschen liebt. Eine Figur mit Schwächen und Stärken. Vielleicht verstehen die Leute dadurch besser, was politische Umstände mit Menschen machen.

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