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„Rassismus ist eng mit der kolonialen Vergangenheit vernetzt“

Illustration: FDE

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„Jetzt weg damit“ – das fordert das Künstler*innenkollektiv „Peng.“ Sein neuestes Projekt heißt provokant: „Tear Down This Shit“ (zu deutsch: „Reiß den Scheiß nieder“). Was damit gemeint sein könnte, zeigt unter anderem ein Blick nach Bristol, Minnesota oder Antwerpen. Dort wurden Denkmäler von Kolonialverbrechern wie Edward Colston von Aktivist*innen gestürzt, zum Teil aber auch von der Stadt abgebaut, um einem Sturz zuvorzukommen. 

Auf der Website des Kollektivs findet sich eine interaktive Deutschlandkarte, auf der Orte eingetragen sind, die in direktem Bezug zur deutschen Kolonialgeschichte stehen sollen. Die Orte können von Nutzer*innen selbstständig auf der Seite gemeldet werden. Das wird rege genutzt. Mittlerweile ist ein dichtes Netz roter Punkte entstanden. Aber warum erlebt das Thema derzeit eine so große Aufmerksamkeit – und was sind die Forderungen deutscher Aktivist*innen?

„Für viele ist der Sturz der Statue beeindruckend gewesen“

Als am 7. Juni die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston im Bristoler Hafenbecken versank, gingen die Bilder der Aktion wie ein Lauffeuer um die Welt. Auch Tahir Della, Vorsitzender der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD), hat das Ereignis wahrgenommen: „Für viele ist der Sturz der Statue beeindruckend gewesen. Vor allem für junge Schwarze war er sehr empowernd“, sagt er am Telefon. Dass der Sturz im Umfeld der BLM-Proteste um den Tod des Afroamerikaners George Floyd geschah, verwundert ihn nicht. „Rassismus ist ganz eng mit der kolonialen Vergangenheit vernetzt“, erklärt er, „viele Menschen wollen diese Symbole nicht mehr verehren.“ Die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland unterstützt das Projekt von „Peng“. 

Die ISD setzt sich seit Jahrzehnten für eine Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Deutschland ein. Della macht darauf aufmerksam, dass der Sturz der Statuen nicht im Affekt geschah, sondern bewusst und vor dem Hintergrund einer ausdauernden Sensibilisierung zum Thema Kolonialismus. Dass das Thema erst jetzt auch bei der breiten Öffentlichkeit ankommt, sei vor allem den aktuellen Protesten zu verdanken, sagt er. Die „Black Lives Matter“-Proteste und Forderungen nach Aufarbeitung der kolonialen Geschichte gehen Hand in Hand, so Tahir. Deutschland stehe dabei am Anfang eines langen Reflexionsprozesses.

Seyk ist 18 Jahre alt und hat vor einem Jahr sein Abitur gemacht. Seit kurzem setzt er sich in der Initiative für Diskriminierungssensibilität und Rassismuskritik (IDiRa) in Hannover ein. „Über die deutschen Kolonien habe ich in Erdkunde, Geschichte und Politik nichts gelernt – und das waren meine Leistungskurse“, sagt er. Den  jungen Leuten in seinem Freund*innenkreis erging es ähnlich – und das wollten sie ändern, erzählt Seyk. Er sieht die Ursachen für den Aktivismus junger Menschen in der Globalisierung und einer jungen multikulturellen Gesellschaft, die schockiert sei über das lückenhafte deutsche Geschichtsbewusstsein. Der Schulbuchforscher Lars Müller sagt gegenüber dem Mediendienst-Integration, dass „Kolonialgeschichte zwar fester Bestandteil der Unterrichtsmaterialien“ sei, allerdings hätten „die Lehrpläne jedoch nur wenig Anreize, das Thema kritisch zu behandeln“. Auch Seyk hat diese Erfahrung gemacht: „In der Schule habe ich kein einziges Mal vom Genozid der Deutschen in Namibia oder von Leopold II aus Belgien gehört, der fast zehn Millionen Kongoles*innen umgebracht hat. Wie kann so etwas passiert sein und ich weiß nichts davon?“, fragt er. 

Dabei stieg Deutschland 1884 mit in die koloniale Praxis ein und herrschte zeitweise in Afrika, Ozeanien und Ostasien. Deutschland hatte somit das weltweit viertgrößte Kolonialgebiet. 1904 entstanden im heutigen Namibia die ersten Konzentrationslager und Deutschland ermordete Zehntausende Angehörige der einheimischen Herero und Nama. Mittlerweile klassifiziert auch die Bundesregierung das Kolonialverbrechen als Völkermord – allerdings ohne, dass sich daraus Entschädigungen ergäben.

„Wir sind die Generation, die die Welt ändern muss, damit wir überhaupt eine Zukunft haben“

Auch Miaina Razakamanantsoa ist Teil der IDiRa. Die Schweizerin absolviert derzeit ihr Masterstudium in Hannover und hat in Deutschland ähnliche Erfahrungen wie Seyk gemacht. „Ich habe in Deutschland noch nie Menschen getroffen, die über den ersten Völkermord der Deutschen in Namibia geredet haben“, sagt sie. Dabei sei das unausweichlich, wenn man Rassismus in Deutschland bekämpfen möchte: „Rassismus hat seine Wurzeln in der kolonialen Aktivität und Mentalität.“ Für die meisten sei Kolonialismus an ein politisches und wirtschaftliches System geknüpft, das in dieser Form nicht mehr existiere. Sie betont, dass dies allerdings nur möglich war, weil es eine entsprechende Kultur gab, die eine Kolonisation möglich machte. Rassismus war ein wesentlicher Teil davon, denn nur indem andere Menschen abgewertet wurden, konnte die Versklavung und Ausbeutung legitimiert werden. „Viele dieser rassistischen Mechanismen, die die damalige Mentalität geprägt haben, sind in unserem Denken auch heutzutage noch präsent“, so Miaina. Auch werde damit noch immer Geld verdient. Museen in Deutschland würden koloniales Raubgut ausstellen und Erlöse erzielen, die den ehemals Kolonialisierten verwehrt bleiben.

Gruppen wie die ISD oder IDiRa fordern eine Dekolonialiserung in Deutschland. Sie wollen die kolonialen Kontinuitäten aufbrechen und appellieren an eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Sie fordern Veränderungen. Jetzt sei es Zeit, dass der Staat diesen Forderungen nachkommt, finden Aktivist*innen. So auch Valerie Hartling und Kensia Klingert, die beide in Weimar studieren. Sie sind noch nicht organisiert, möchten aber in naher Zukunft eine Gruppe zusammen mit anderen Aktivist*innen gründen. „Durch Bewegungen wie ,Black Lives Matter‘ und Organisationen wie ,Decolonize‘ wird hoffentlich auch die Politik sensibilisiert und erkennt, dass wir eine umfangreiche Aufklärungsarbeit brauchen, um die deutsche Erinnerungspolitik tatsächlich so nennen zu können“, sagt Valerie. 

Gerade, weil die Forderungen der ISD bereits seit den 80er Jahren im Raum stehen, bemängeln junge Aktivist*innen ausbleibende Änderungen. „Wir sind die Generation, die die Welt ändern muss, damit wir überhaupt eine Zukunft haben. Und da gehört eben die Dekolonialisierung Deutschlands, Europas und der ganzen Welt dazu“, sagt Kensia.

Die „Black Lives Matter“-Bewegung stellt den Status Quo in Frage und die neuen Stimmen, vor allem junger Leute, finden durch sie Ausdruck. Auch in Deutschland fordern sie die Umbenennung von rassistischen und kolonialen Straßennamen, Orten und Denkmälern. Es gehe dabei nicht nicht darum, Geschichte auszulöschen, sondern sie zu thematisieren, Verantwortung zu übernehmen und die Konsequenzen daraus zu ziehen, betonen Initiativen wie Berlin Postkolonial.

Ob die Politik die Forderungen ernst nimmt, könnte bereits ein Vorschlag zur Gesetzesänderung von den Bündnis90/Die Grünen zeigen. Das  Wort „Rasse“ im Grundgesetz soll gestrichen werden. Das wäre allerdings nur der Anfang, denn die Karte des Kollektivs „Peng“ zeigt noch eine Menge zu behebender Baustellen.

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