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Eine Anleitung für passiv-aggressive Weihnachten

Illustration: FDE

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Die Erwartungen an Weihnachten sind groß dieses Jahr, denn das Fest ist in den Hochzeiten der Pandemie für viele Menschen ausgefallen. So richtig gemütlich muss das jetzt werden, Leute, aber so richtig! Wir haben das verdient: Uns in Behaglichkeit einzumummeln wie die Pinienkern-Aprikosen-Füllung in eine Bratgans. Und durch das duftende, warme Fleisch um uns soll nur gedämpft der heilsame Klang einer Bundespräsidenten-Weihnachtsansprache dringen: „Beisammensein“, „Besinnung“, „Innehalten“.

Aber halt! Inne. So hohe Erwartungen an Harmonie und Seligkeit können eigentlich nur enttäuscht werden. Warum besinnen wir uns stattdessen nicht einfach auf das, was immer funktioniert hat? Das, was uns als weiße, deutsche Kernfamilien an Weihnachten ausmacht: die passiv-aggressive Kommunikation von übers Jahr angesammelter Unzufriedenheit. Wie das ganz einfach klappen kann? Eine (nicht ganz ernst gemeinte) Anleitung, optimiert für jedes Familienmitglied.

Tochter

Da draußen steht alles in Flammen und ihr spielt hier heile, kleine Welt?! Niemals! Bleib gelassen, aber lass zu keinem Zeitpunkt Zweifel daran, dass du das absurd findest und hier der einzig wirklich bewusst lebende Mensch bist. Das Private ist politisch und was wäre privater als Heiligabend? Lass nichts unkommentiert, schau nie weg. Lehne zum Einstieg mit ruhiger Selbstverständlichkeit ab, die Gans zu essen und teile dann ein paar Facts über den CO2-Fußabdruck von Fleischkonsum in einem Tonfall, als ob du mit Kindern reden würdest. 

Nutze das reiche Register an Fachausdrücken aus deinem Soziologie-Studium – egal, ob sie passen oder nicht. Prüfen kann das eh keiner. Am besten richtest du dich dabei gar nicht an deine Familie, sondern stellst dir vor, du redest bei einer selbstgedrehten Kippe mit deinen Kommiliton:innen. Das Jesus-Kind mit güldenem Haar? „Ist halt einfach nur mega eurozentristisch.“ Die Bescherung? „Yay, totalitärer Konsumismus!“ Die Ehe der Eltern? „So ne Art cisheteropatriarchaler Hilfeschrei.“ Aber wenn jemand nachfragt, was genau du meinst, verdreh nur die Augen und lass ihn stehen. Soll er:sie sich doch selbst educaten. Gender konsequent, auch mit deiner 90-jährigen Oma. Lass sie ruhig glauben, du hättest einen Sprachfehler.

Grundsätzlich gilt: Vermittle, dass dein eigentliches Leben ganz woanders stattfindet. Am besten, indem du ab und zu aus dem Abseits über irgendwelche Instastorys glockenhell auflachst.

Sohn

Die Rolle der woken Rebellin hat deine Schwester zwar schon an sich gerissen, aber deine Stärke liegt eh woanders: Du bist der gelangweilte Zyniker. Mach alles mit – aber ironisch. 

Wenn deine Mutter fragt: „Und, wie war die Fahrt?“, müll sie zu mit detaillierten Beschreibungen von ICE-Verspätungen und Fahrkartenkontrollen. Betone beim Essen so oft mit kindlicher Freude, wie lecker alles ist, bis deine Eltern komplett verunsichert sind. Wenn dein Vater zotige Witzchen reißt, lache laut und lange. Wenn die Oma darauf besteht, Weihnachtslieder zu singen, erinnere immer daran, dass da ja noch eine Strophe kommt. Zeige deine Non-Konformität durch übertriebene Konformität. 

Dieser Rückfall in subversiven pubertären Trotz ist allerdings kräftezehrend und nicht lange durchzuhalten. Versinke deshalb nach der Bescherung in melancholisches Schweigen. Wenn jemand nachfragt, schau an deiner Familie vorbei ins Leere: „Ne, ne. Alles gut.“ Denk dran: Du bist kompliziert, tiefsinnig, ein einsamer Wolf. Und der ganze bürgerliche Kitsch raubt dir die Luft zum Atmen. 

Mutter

Du hast eingekauft, die Betten in den alten Kinderzimmern gemacht, gekocht, Geschenke verpackt, dich um alles gekümmert und bis zum 23. gearbeitet. Und überhaupt: Du hast deiner Familie deine Karriere, deine Zeit, deine Träume, nein, dein Lebensglück geopfert! Eine ideale Ausgangssituation. 

Aber erst die Basics. Stell deinen Kindern in regelmäßigen Abständen die gleichen, belanglosen Fragen. Zum Beispiel: „Und, wie war die Fahrt?“ Bleib dazu immer in Bewegung. Vermittle durchgängig den Eindruck, dass du dich zerreißt, um allen eine schöne Zeit zu ermöglichen. Wenn du gefragt wirst, ob man dir helfen kann, sag mit Märtyrerinnen-Lächeln: „Ist schon in Ordnung. Ich bin’s ja gewohnt.“

Beim Festmahl schlägt deine Stunde. Fordere ohne Einleitung intime Informationen ein. Stichwort: „Ich krieg ja gar nichts mit von euch!“ Wenn sie dann aus schlechtem Gewissen reden, verlass dich ganz auf dein Gespür für Schwachstellen. Sei verspielt. Verwechsel zum Beispiel absichtlich den Namen der aktuellen Partner:innen deiner Kinder mit denen ihrer Ex-partner:innen. Wenn du dann korrigiert wirst, setze die Saat des Zweifels: „Ach, stimmt. Mensch, die Paula war so nett. Schade, dass das nicht geklappt hat.“ Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. 

Auch die Bescherung kannst du geschickt unterwandern: Schenke deinem Schatz einen Ratgeber, zum Beispiel „Worauf wartest du noch? Eine Ermutigung zum Aufbruch in der Lebensmitte“. Und deinen Kindern was Geschmackloses, in dem aber viel Fleißarbeit steckt. Denk dran: Du hast ihnen das Leben geschenkt. Und jetzt gefallen ihnen deine selbstgetöpferten Müslischüsseln nicht?

Vater

Als alter weißer Mann wirst du immer mehr ins Abseits gedrängt. Aber nicht an Weihnachten! Hier tut sich die seltene Möglichkeit auf, nochmal das Familien-Oberhaupt raushängen und alle wissen zu lassen, wer an der Spitze der Nahrungskette steht. Kleine Hilfestellung: Visualisiere ein Mischwesen aus Dieter Bohlen, Alexander Gauland und einem dicken, haarigen Eber.

Mache ungefragte Bemerkungen zu Äußerlichkeiten. Etwa zur neuen Kurzhaarfrisur deiner Tochter: „Na, sieht jedenfalls kämpferisch aus. Ich wollte ja eh immer zwei Jungs, haha!“ Zeig deinem Sohn deine Überlegenheit und kombiniere das mit unangenehm vulgärer Verbrüderung, indem du ihm erst feierlich das Anschneiden der Weihnachtsgans überlässt, ihm dann aber gleich wieder das Messer aus der Hand nimmst mit den Worten: „Tobi, du musst hier oben an der Brust ansetzen! Immer gleich ans Hinterteil, was?!“

Für den restlichen Abend gilt: Trink dir ordentlich einen an, dann ergibt sich der Rest von alleine. Mach dir die politisch korrekte Wachsamkeit deiner Kinder zunutze. Dog-Whistling heißt das Zauberwort. Scheue dich nicht, mit deinen hingegrunzten Witzchen offensichtliche Grenzen zu überschreiten. Irgendwas mit „Heilige drei Könige“ und „Black Lives Matter Demo“ zum Beispiel. Dir fällt da schon was ein. Wenn sie dann protestieren, lehn dich gemütlich zurück, schieb dir einen Keks in den Mund und sag schmunzelnd: „Ach seid ihr heutzutage empfindlich“. Hier bietet sich unter Umständen auch eine temporäre Allianz mit der Oma an.

Wenn du merkst, dass deine Frau sich langsam entspannt, nimm sie zur Seite und flüster ihr besorgt zu: „Beate, meinst du nicht, dass es jetzt reicht mit dem Sekt?“

Oma

Du kommst nicht ohne Grund zuletzt in dieser Anleitung. Du bist Ballast. Wahrscheinlich hat dein Sohn mit seinen Geschwistern im Vorfeld darüber gestritten, wer dich dieses Jahr zu Weihnachten „nimmt“. Unterm Jahr besucht dich auch kaum jemand, wieso solltest du an Weihnachten so tun, als ob alles gut sei – nur damit die ihr Gewissen beruhigen können? Nein. Lass sie sich schuldig fühlen. Lass sie teilhaben an deinem Leid. 

Dein Alter ist hier Gold wert. Deine Schwerhörigkeit: Lass sie laut reden und alles wiederholen. Dein Gedächtnis: Frag deine Enkel mehrmals, was sie denn jetzt eigentlich machen und sei jedes Mal demonstrativ ernüchtert: „Aha. Und was kann man dann damit machen?“ Deine Gebrechlichkeit: Warte, bis sich die Stimmung gerade ein bisschen aufhellt und wimmere dann wegen irgendeines undefinierbaren Schmerzes laut auf. Und zuletzt: Zwing sie, vor deinen Augen deine steinharten Pfefferkuchen zu essen.

Fang irgendwann an zu schwafeln. Keiner wird sich trauen, dich zu unterbrechen, wenn du die ewig gleichen Geschichten runterleierst: Früher, als der soundso noch gelebt hat, das war vielleicht was. Und es hat an Weihnachten ja auch immer Karpfen gegeben, nicht Gans, und wer ist denn auf diese schwachsinnige Idee gekommen? Seufze tief und dann spiel deinen Trumpf aus: „Ach, das Alter ist nicht schön. Manchmal wünsch ich mir, dass das Corona dem Ganzen ein Ende macht.“ Genieße die betretene Stille. Sie gehört dir.

Wir sind doch alle zutiefst missverstandene Wesen, die nie die Liebe bekommen, die sie eigentlich verdienen. Und wenn ihr dann irgendwann alle angesoffen und gesättigt im Bettchen liegt, schließt deshalb die Augen und denkt an das köstlichste Geschenk von allen: Es hat sich, wenn auch nur für ein paar Augenblicke, alles um euch gedreht. 

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