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Erwachsenwerden in der Provinz

Foto: Nic Reed Middleton

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Ach, diese westdeutsche Provinz! Strahlend weiße Einfamilienhäuser mit Solar-Panels auf dem Dach. Saubere Teerstraßen. Von einer Anhöhe aus geht der Blick auf eine hügelige, grüne, unglaublich durchschnittliche Landschaft. Hier gibt es nichts zu tun. Darum braucht man hier: gute Freundinnen.

Julija, Caro und Zada sind genau das: gute Freundinnen. 16 Jahre alt, wohnhaft in dieser westdeutschen Provinz. Und sie sind die Protagonistinnen von „Girl Cave“, der neuen Webserie von funk und der Mainzer Produktionsfirma Memofilm. Vergangenen Freitag ist sie gestartet, wöchentlich erscheint nun auf Youtube eine der acht, jeweils 15-minütigen Folgen.

Die Zielgruppe sind vermutlich Zuschauer im Alter der Protagonistinnen. Trotzdem kann es auch Spaß machen, sich „Girl Cave“ mit 20, Mitte 20 oder gar 30 anzuschauen – denn jeder, der in einer ähnlichen Umgebung aufgewachsen ist (und das sind ja viele, die heute in den deutschen Großstädten die Mieten nach oben treiben), wird sich irgendwie in dieser Serie wiederfinden. Und sich darüber freuen, dass endlich mal jemand genau diese Provinz und den Wachstumsschmerz, den man dort hat, zum Thema gemacht hat. 

Der rote Faden in „Girl Cave“ ist ein Buch, das Julijas verstorbene Mutter ihr hinterlassen hat. Darin stehen Lebensweisheiten („Hinter jedem Vermögen steht ein großes Verbrechen“), Regeln, die sie befolgen („Keine Beerdigung ohne Musik“), und Dinge, die sie ausprobieren soll (Drachen steigen lassen, magische Cupcakes backen). „Liebe Julija, mach das Buch!“ lautet die schriftliche Aufforderung der Mutter. Und so inspiriert ihr Nachlass Julija und ihre Freundinnen zu einem gemeinsamen Drogentrip, Gedankenexperimenten („Wie würdet ihr eigentlich eine Bank überfallen?“) oder auch ganz simpel dazu, einen Drachen steigen zu lassen. Nebenher passieren all die Dinge, die Teenagerinnen eben so passieren, zumal, wenn sie solche Geeks sind wie diese drei: fiese Mitschülerinnen mit Kunstlederjacken lachen sie aus, die Eltern sind bemüht, aber überfordert, die Schule nervt, süße Jungs wollen sie lieber zum Kumpel, als zur Freundin haben und der erste Sex ist enttäuschend bis verwirrend.  

„Hat, was Schauspiel und Dialoge betrifft, so ein bisschen Schloss-Einstein-Feeling“, kommentiert eine Zuschauerin unter der ersten Folge. Obwohl sie das vermutlich als Kritik meint, macht unter anderem das den Charme dieser kleinen Serie aus. Ja, „Girl Cave“ ist manchmal ziemlich hölzern, und ja, die Serie ist natürlich sehr, sehr brav. Aber die drei Hauptdarstellerinnen wurden an Schulen in Rheinland-Pfalz gecastet, der Drehort war Nieder-Olm, eine kleine Stadt in der Nähe von Mainz – und man merkt den Mädchen an, dass ihnen die Umgebung, in der sie sich da bewegen, vertrauter ist als die Schauspielerei. Was für die Nähe zum Zuschauer, die „Girl Cave“ erzeugen will, nur förderlich ist. Hier wird keine große Geschichte erzählt, kein Kunstwerk geschaffen, sondern es werden drei Teenagerinnen gezeigt, die wirklich drei Teenagerinnen sind. 

Rund um „Girl Cave“ gibt es eine mit viel Liebe gemachte Social-Media-Welt

Wie realistisch das Drehbuch das Leben von drei typischen 16-Jährigen wiedergibt, ist allerdings fraglich – immerhin besteht das Autoren-Team aus zwei Männern und einer Frau zwischen 28 und 36. Das macht aber nichts, weil Julija, Zada und Caro ja sowieso Außenseiterinnen sind. Sie bieten das für Jugendserien so typische Identifikationspotenzial à la „schräge Frisur und Chucks, aber ein gutes Herz“ und die genauso typische Botschaft, dass Anderssein total in Ordnung ist. Und weil das hier ja nicht mehr die Neunziger- oder Nullerjahre sind, greift die Möglichkeit zur Identifikation weiter als früher: Rund um „Girl Cave“ gibt es eine vollständige und mit viel Liebe gemachte Social-Media-Welt: einen Instagram- und einen Twitter-Account, einen Tumblr, die erste Fan-Art. Zum jetzt schon von vielen gelobten (und wirklich sehr tollen) Soundtrack soll es jeden Samstag eine kleine Spotify-Playlist geben. Und zwei Zeichnerinnen ergänzen jede Folge mit einem Poster und einem Comic.

Die größte Stärke von „Girl Cave“ ist allerdings die Atmosphäre, etwas, was die fast schon kultisch geliebte und gehasste Vergleichsserie „Schloss Einstein" definitiv nicht hat. Nostalgie und Melancholie gab es dort nicht, in „Girl Cave“ gibt es sie zuhauf. Denn die Kamera hat die reizarme, westdeutsche Provinz – in der auch einer der Autoren selbst zur Schule gegangen ist – unglaublich gut eingefangen. Wenn Julija über besenreine Straßen nach Hause radelt, die ordentlich geföhnte Nachbarin über den genauso ordentlichen Gartenzaun grüßt, die drei Freundinnen vor der örtlichen Bank-Filliale abhängen, weil das nun mal seit der Grundschule ihr Abhäng-Platz ist, oder auf einem der unzähligen Hügel im Gras liegen, dann werden viele sich sofort an die widerstrebenden Gefühle erinnern, das das Aufwachsen in dieser Provinz einem beschert: unendliche Langweile und vor lauter Erwachsenwerden trotzdem ständige, innere Aufregung. Der sehr starke Drang weg von dort, wo man ist, und doch die Angst davor, dass dieser Zustand endlich ist. Dass irgendwann die Abifeier gefeiert sein und Papa helfen wird, die angeschrammte Ikea-Kommode im viel zu kleinen Kofferraum zu verstauen. Dass man sich in einer gar nicht so fernen Zukunft von den Freundinnen trennen muss und nicht mal mehr eben mit dem Fahrrad rüberfahren und sich zusammen aufs Bett wird legen können.

Hätte sie viel Geld, sinniert Caro in einer Szene, dann würde sie ein Haus kaufen, in dem sie alle zusammen wohnen könnten, noch wenn sie hundert Jahre alt sind. „Ich habe es nämlich nicht so eilig, dass ihr hier abhaut“, sagt sie. „Nee, eilig jetzt nicht“, sagt Julija. Ganz eindeutig schwingt da mit: „Aber abhauen werden wir doch so oder so.“ Wie so viele vor ihnen. 

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