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Wie Studierende und Lehrende digital ins Semester starten

Foto: Julia Straub / photocase.de; Illustration: FDE

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Statt dicht gedrängt in Vorlesungssälen oder stickigen Seminarräumen zu sitzen, werden Studierende und Dozierende das kommende Semester eher zu Hause vor dem Bildschirm verbringen. Denn die Covid-19-Pandemie schränkt den Hochschulbetrieb enorm ein: Bibliotheken und andere Uni-Gebäude bleiben geschlossen, der Semesterstart wurde zum Teil verschoben und die Präsenzlehre eingestellt. Irgendwie weitergehen soll es trotzdem – nämlich digital. Wie genau Online-Lehre umgesetzt wird, das müssen die Universitäten und Hochschulen individuell ausloten. Dabei geht es jedoch nicht nur um Technik oder Didaktik, sondern auch um Fairness. Denn die Umstellung auf digitale Lehre mag für manche Flexibilität und Fortschritt bedeuten. Für andere ist sie aber eine riesige Herausforderung – bis hin zur persönlichen Katastrophe.

„Man kann nicht so tun, als wäre ‚business as usual’“

Anna-Lena Oldehus, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich „American Studies“ der Universität Hannover, hat vor Kurzem eine Umfrage bei ihren Studierenden gestartet. Damit wollte sie sich einen Eindruck über deren aktuelle Lage verschaffen und herausfinden, wie sie ihre Lehrveranstaltungen gestalten soll. „Ich begreife mich gerade eher als Dienstleisterin: Den Leuten eine Struktur geben und die Möglichkeit, sich mal nicht mit Corona zu beschäftigen. Aber ich habe nicht die Erwartung, dass bei der Online-Lehre große Theoriesprünge herauskommen. Man kann nicht so tun, als wäre ‚business as usual’“, sagt sie im Telefonat mit jetzt. Denn das Ergebnis ihrer Umfrage zeigte zwar, dass die Studierenden motiviert sind, aber: Bei vielen ist das Internet daheim gerade überlastet, weil der gesamte Haushalt im Home-Office ist. Manche von ihnen haben überhaupt keinen Internetzugang. Sie seien es gewohnt, zur Uni zu gehen, um dort zu arbeiten.

Diese Voraussetzungen erschweren eine faire Lehre. Anna-Lena Oldehus hat sich deshalb überlegt, flexible Lösungen anzubieten: dass ihre Seminare online nicht zu einer festen Zeit stattfinden, sondern länger verfügbar bleiben und daran angelehnte Essays im Nachhinein abgegeben werden können. „Wann die Essays geschrieben werden, ist den Studierenden überlassen. Und wenn es gar nicht geht, dann geht es nicht“, sagt sie.  

An einem vollständig digitalen Programm arbeitet die „Bucerius Law School“, eine private Hochschule für Rechtswissenschaften in Hamburg. Materialien sollen dort – laut Website – auch zeitlich unabhängig von den Veranstaltungen zur Verfügung gestellt werden, „damit auch Studierende, die beispielsweise auf kleine Geschwister aufpassen müssen, weil die Eltern arbeiten gehen, so flexibel wie möglich lernen können“. Im Mittelpunkt der Planungen stehen jedoch interaktiv ausgestaltete Lehrformate. Jonathan Schramm, persönlicher Referent der Geschäftsführung, erklärt gegenüber jetzt: „Über 40 Dozent*innen sind im Halten digitaler Lehrveranstaltungen von uns geschult worden. Darunter auch schon vier Professor*innen.“ Neben den Examensvorbereitungskursen, die wöchentlich als Webinar in Kleingruppen gehalten werden, hat dort bereits eine komplett digitale Klausurenphase stattgefunden.

Die Studierenden dürfen, je nach Ermessen der Lehrenden, ihre Master-Arbeiten vorziehen

Dabei kann insbesondere im Jurastudium ein nahtloser Übergang von Präsenz- zu Online-Lehre zum Problem für Studierende werden. Marie*, 25, erzählt zum Beispiel, sie sei in Tränen ausgebrochen, als es zunächst hieß, die Lehre an ihrer Uni solle komplett digital stattfinden. Sie studiert im vierten Semester an der HU Berlin und empfindet das Jurastudium ohnehin als große psychische Belastung: „Ich lebe alleine in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung und seitdem ich studiere, gehe ich zum Lernen und Arbeiten in die Bibliothek. Das Studium ist für mich mit hohen Leistungsdruck verbunden. Aus dem Grund ist es für mich nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, eine räumliche Trennung zu haben.“ Mittlerweile heißt es aber, es solle mehr Kulanz herrschen, wenn man Leistungen nicht wie gewohnt erbringen kann. Konkrete Informationen hat Marie* bislang allerdings noch nicht bekommen. 

Es gibt aber auch Fälle, in denen die Umstellung positive Auswirkungen auf den Studienverlauf hat: zum Beispiel für Esther, 23, die im Master „Politikmanagement, Public Policy und Öffentliche Verwaltung“ in Duisburg-Essen studiert. In ihrem eher kleinen Studiengang wurde für das kommende Semester eine besondere Regelung getroffen: Die Studierenden dürfen, je nach Ermessen der Lehrenden, ihre Master-Arbeiten vorziehen – auch wenn Credits oder das vorgeschriebene Pflichtpraktikum fehlen. Obwohl es gerade weniger Kontakt zu Lehrenden gibt und einen eingeschränkten Zugang zu Literatur, findet Esther diese Lösung super. Denn dadurch hat sie die Möglichkeit, sich zwischen den digitalen Angeboten ihres Instituts, einer vorgezogenen Masterarbeit und mehr Arbeiten im Home-Office zu entscheiden. Auch würden sich in ihrem Fach durch die Situation neue Forschungsansätze ergeben – zum Beispiel bei Themen wie „Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte“, „Krisenmanagement von Politiker*innen“ oder „Soziale Ungleichheiten“. Esther sagt: „Ich glaube, dass ich einer der wenigen Menschen bin, die nach der Krise einen persönlichen Vorteil aus ihr ziehen könnte.“

„Die Debatte über die Digitalisierung von Lehre darf keine rein methodologische sein“

Es gibt allerdings auch Fächer, in denen Präsenzlehre schlicht unabkömmlich ist. Das gilt beispielsweise für einen Großteil der Naturwissenschaften, Medizin und Lehramts-Studiengänge, die praxisbezogen und in denen der Zugang zu Uni-Räumen wie Laboren und der dortigen Ausstattung oder soziale Interaktion essentiell sind. Dazu gehört auch das Studium eines Musikinstruments. Nora, 25, zum Beispiel studiert in München Violine und hat nach dem ersten Mal Skype-Unterricht mit ihrer Professorin große Bedenken: Das Tempo sei wegen der Verbindung instabil und die Klangqualität werde schlechter übertragen. Auch die Kommentare der Professorin kann sie beim Spielen nicht hören. Bei den meisten Musikinstrumenten könnte das Üben zu Hause allein schon wegen der Nachbarschaft zum Problem werden. Aber nicht nur das: Ein Großteil des Studiums ist auf das Zusammenspielen angelegt. Fällt dies weg, fehlt ein elementarer und wichtiger Teil der Ausbildung. „Das ist so, als würden Fußballer nur ganz allein trainieren“, erklärt Nora.

Eine Geisteswissenschaftlerin, die für diesen Text anonym bleiben möchte, ist ziemlich entsetzt, wenn sie an die Lehre im kommenden Semester denkt. Sie ist befristet als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt, muss ihr Lehrdeputat erfüllen, während sie bis zum Laufzeitende ihres Vertrags noch an einer akademischen Qualifikationsschrift arbeitet. Zusätzlich ist sie zurzeit noch mit Kinderbetreuung und Homeschooling ausgelastet: „Soll ich etwa komplett auf Schlaf verzichten und gegen die Wand fahren?“, schreibt sie in einem Chat mit jetzt und ergänzt: „Die Debatte über die Digitalisierung von Lehre darf keine rein fachliche, methodologische sein.“ Aber diese Sorgen offen zu kommunizieren, traue sich kaum jemand. Grund dafür ist ihrer Meinung nach ein allgemeines Problem von Müttern in der Wissenschaft: „Ich habe schon oft gehört, dass man es sich bloß nicht anmerken lassen darf, jemals aufgrund eines Kindes beruflich verhindert zu sein. Eher: Krankheit vortäuschen, andere Termine erfinden.“ Ihrer Meinung nach sollten gerade vor allem diejenigen Dozent*innen digitale Formate anbieten, die keine Care-Verpflichtungen haben.

„Der Alltag von vielen befristet beschäftigten Lehrenden ist gerade schwierig“

Wegen solcher Situationen hat Prof. Paula-Irene Villa Braslavsky (LMU München) gemeinsam mit zwei weiteren Professorinnen in einem offenen Brief unter anderem die Forderung gestellt: Verträge befristet beschäftigter Mitarbeiter*innen sollen verlängert werden – auch um jene zu entlasten, die gerade durch zusätzliche Care-Tätigkeiten überlastet sind. „Der Alltag von vielen befristet beschäftigten Lehrenden ist gerade schwierig. Der erhöhte Arbeitsaufwand durch die Umstellung auf digitale Lehre kommt da ‚on top’“, erklärt Villa Braslavsky telefonisch gegenüber jetzt.

Mittlerweile hat Bundesforschungsministerin Anja Karliczek reagiert und das Wissenschaftszeitvertragsgesetz um eine zeitlich befristete Übergangsregelung ergänzt: Die Höchstbefristungsdauer für Qualifizierungen soll um sechs Monate verlängert werden. Für Villa Braslavsky ist das ein erster Schritt, um Dozierenden zu helfen, denn: „Die digitale Lehre bedarf eigener Überlegungen, Planung und Umsetzung im Rahmen der technischen Infrastruktur. Das ist nicht zu verwechseln mit dem, was wir immer gemacht haben: Es ist nicht das Gleiche in grün.“

Online-Lehre ist komplex und Frustrationen in der Anfangszeit sind vorprogrammiert

Digitale Lehre bedeutet insgesamt also nicht einfach „digitalisierte Präsenzlehre“. Bei der Umstellung spielen Faktoren wie die Lebensumstände Lehrender und Studierender, der jeweilige Fachbereich und finanzielle Mittel der Hochschulen mit hinein. Eine Lehrveranstaltung online zu halten, erfordert außerdem neue und vor allem kreative Ideen. „Ich finde, dass man Formate finden sollte, durch die ein Austausch in kleineren Gruppen ermöglicht wird. Eine einfache Frontallehre halte ich gerade online für fragwürdig“, sagt Aris Harkat. Er unterrichtet am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin vor allem Studierende der ersten Fachsemester: „Wenn die Bibliotheken wegfallen, können wir nur im Rahmen kleinerer Möglichkeiten arbeiten.“ Denn Online-Lehre ist komplex und Frustrationen in der Anfangszeit sind vorprogrammiert. In einem Beitrag von Dr. Christine Tovar im „Hochschulforum Digitalisierung“ heißt es deshalb: „Für fundierte, gut durchdachte Online-Kurse braucht es Zeit. Und die gibt es gerade nicht. Die Erwartungshaltung muss also heruntergeschraubt und es muss anerkannt werden, dass die Ansätze teilweise nur auf der ‚So-gut-es-geht‘-Ebene bleiben“.

*Name geändert

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