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So kommst du in einem geisteswissenschaftlichen Seminar klar

Illustration: FDE

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Uni-Seminare fühlen sich oft an wie ein eigener Kosmos, der je nach Fachbereich ein klein wenig anders funktioniert – so auch bei den Geisteswissenschaften. Gerade für Erstis wirkt das alles oft besonders seltsam. Schließlich haben sie vielleicht auch noch andere Hobbys als Derrida-Lektürekreise zu gründen und dadaistische Gedichte zu schreiben. Und noch keine kritische Meinung zu allem und jedem. Logisch, dass sie in ihren ersten Seminaren gar nicht verstehen, warum alle so kompliziert sprechen, dabei wild gestikulieren und verdächtig ähnliche Frisuren und Outfits tragen. 

Das könnte wahnsinnig bereichernd sein. Man könnte die Seminardiskussionen dadurch vielleicht sogar voranbringen. Indem man die Kommiliton:innen zum Beispiel fragt: „Wie meinst du das denn?“ Oder: „Was bedeutet überhaupt [hier seltenes Fremdwort einfügen]?“ Aber weil das ja irgendwie peinlich sein könnte, machen es die meisten anders: Und ahmen einfach diejenigen nach, die schon länger in diesem Kosmos verkehren. 

So habe ich das zu Beginn meines Studiums auch gemacht. Ich habe nicht nur ein geisteswissenschaftliches Fach studiert. Ich habe auch studiert, wie sich geisteswissenschaftliche Studierende verhalten. Denn mein Ego war viel zu groß, um einfach Ich selbst und damit vielleicht ganz anders zu sein als die anderen. Und um zuzugeben, dass ich nicht weiß, was „Ontologie“ bedeutet. 

Falls es dir auch so geht und du keine rollenden Augen für dein Nicht-Wissen über Nietzsche ernten möchtest, dann ist folgender – nicht ganz ernst gemeinter – Guide perfekt für dich. Denn wenn du diese Schritte befolgst, wirst du in einem geisteswissenschaftlichen Seminar garantiert zurechtkommen:

Der Style – Hipster ohne Hipness

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Illustration: FDE

Auch wenn dort alle wahnsinnig tiefgründig tun, beginnt auch im geisteswissenschaftlichen Seminar dein perfekter Auftritt wie in jedem 08/15-Teenie-Film: mit dem richtigen Look. Aber keine Sorge, der ist schnell gemacht. Denn du brauchst nur einziges Outfit. Eine zu abwechslungsreiche Garderobe könnte den Verdacht wecken, dass du in deiner Freizeit noch andere Dinge tust, als dicke Wälzer zu lesen. Das gilt es zu vermeiden. Deine Basic-Pieces sind ein leicht fusseliger Rollkragenpulli (im Sommer auszutauschen gegen ein Leinenhemd mit rundem Kragen) und eine Oldschool-Brille (bevorzugt ein ungewöhnlich kleines oder ungewöhnlich großes Modell in Draht- oder Hornfassung). Kleiner Tipp: Ich persönlich trage für den abendlichen Theaterbesuch mit dem Kurs gerne mal zusätzlich einen etwas größer geschnittenen Woll-Blazer und roten Lippenstift ohne Lipliner. Das Ziel ist es, so auszusehen, dass ein BWLer dich für eine Kunststudentin halten würde und eine Kunststudentin dich für einen BWLer. Der Sweetspot liegt dabei genau zwischen Heiligabend–bei-der-bürgerlichen-Kleinfamilie-Chic und Ich-gehe-auf-eine-underground-Vernissage-Extravaganza. 

Aber Achtung: Der Style der Geisteswissenschaftler:innen ist nicht zu verwechseln mit dem der Hipster. Ja, eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Beide kaufen ihre Kleidung im Secondhand-Laden. Der Unterschied ist aber: Studierende der Geisteswissenschaften sehen nicht hip aus, höchstens zufällig. Wenn du beispielsweise eine Oldschool-Brille trägst, dann sollte sie – anders als beim Hipster – nicht ganz zu deiner Gesichtsform passen. Alles darf ruhig ein klein wenig unvorteilhaft sein.

Das gilt auch für die Frisur: Mit einem selbst geschnittenen Pony kannst du eigentlich nichts falsch machen. Deine Haare sollten entweder zu kurz oder zu lang sein. Und nie so aussehen, als hätte sich ein Profi dafür ein Konzept überlegt. Man sollte dir ansehen, dass du in nichts anderes Zeit und Mühe investierst als in anregende und schwierige Lektüren. Schlecht gefärbte Haare tun es alternativ auch, wahlweise mit Ansatz, allerdings ist auf auffällige Farben eher zu verzichten. Das könnte zu lebensfroh (also völlig naiv!) wirken. Studierende der Geisteswissenschaften wollen eher einen weltverdrossenen und grüblerischen Eindruck erwecken – so wie Rilke oder Schopenhauer halt. Weil mir persönlich das mit den gedeckten Farben echt missfällt, habe ich aber Simone de Beauvoir zu meiner intellektuellen Stilikone gemacht. Die hat nämlich ab und zu rote Kleider und Blusen getragen.

Die Sprechweise – substantivier’ it till you make it

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Illustration: FDE

Neben dem Gebrauch klug klingender Terminologien, die in der Regel auf relativ vieles zutreffen (etwa Dekonstruktion, Transzendenz oder Topographie) ist ein weiterer Trick: exzessive Substantivierung. Also: Jedes Adjektiv und Verb, das dir unterkommt, musst du schonungslos und bis zur Unkenntlichkeit substantivieren. Wenn du zum Beispiel sagen willst: „Hier stellt der Autor etwas infrage“, sag lieber: „Hier offenbart sich eine Infragestellung, die der Autor selbst praktiziert“. Oder statt „Dieser Aspekt scheint mir recht wichtig“ lieber: „Die Wichtigkeiten (Plural hier besser, weil unerwartet) dieses Aspekts treten hier zutage.“ 

Wenn ich trotzdem mal versucht bin, normale Wörter zu verwenden, dann kommt hier ein Trick: Ich schmücke sie mit einem umständlichen Zusatz. Das lässt sie seltener erscheinen und abstrahiert sie. Sprich zum Beispiel nicht von „Möglichkeiten“, sondern von „Möglichkeitsräumen“, nicht von „Geschichte“, sondern von „Geschichtlichkeit“. Zusätzlich könntest du noch ganz selbstverständlich lateinische (oder noch besser: altgriechische) Ausdrücke einstreuen (zum Beispiel „a priori“ anstatt „von vornherein“). 

Grundsätzlich gilt: Die Regel für einen geglückten Auftritt im Seminar ist nicht „weniger ist mehr“, sondern „weniger und mehr“! Du solltest dich nämlich nicht zu oft zu Wort melden, aber sobald du sprichst, unbedingt minutenlang monologisieren. So wirkst du nämlich zugleich bedacht und engagiert. Jackpot – auch für schüchterne Menschen wie mich.  Fragen, mit denen du quasi jeden Monolog einleiten kannst, sind: „Womit haben wir es hier eigentlich zu tun?“ oder, mein persönlicher Favorit: „Wie ist das konkret zu denken?“ 

Das Füllwort deiner Wahl ist: „sozusagen“. Uns geisteswissenschaftlichen Studierenden geht es in der Regel darum, zu zeigen, dass wir jederzeit alles reflektieren, wir uns also ganz geschmeidig auf und zwischen verschiedenen Metaebenen bewegen können. Das heißt auch: Alles wird problematisiert. So auch die Wörter, die wir verwenden („Denn Begriffe sind sozusagen immer nur eine vage Annäherung an das Unbegriffliche! Eine ungenügende Setzung, bei der sich eine Infragestellung aufdrängt!“). Wenn du also hin und wieder ein „sozusagen“ einstreust, signalisierst du, dass du genau das verstanden hast. Du distanzierst dich. Du problematisierst! („Du vollziehst sozusagen eine Problematisierung!“) 

Als durchschnittliche:r Student:in der Geisteswissenschaften problematisierst du sowieso alles, was praktischerweise dazu führt, dass du nicht unbedingt etwas an dem ändern musst, was du problematisiert hast. Das Problematisieren fühlt sich nämlich schon wie eine „echte“ Handlung an. 

Du könntest zum Beispiel problematisieren, dass diese ganzen Akademikerkinder, die mit dir studieren (zu denen du am besten auch selbst gehörst) alles so abstrakt und kompliziert ausdrücken – dich trotzdem aber selbst nicht darum bemühen, Fachbegriffe wie „Habitus“ zu erklären. Studierende der Geisteswissenschaften würden sogar einen satirischen Text darüber schreiben, dass sie alles so abstrakt und kompliziert ausdrücken und kritisieren, dass sie Fachbegriffe wie „Habitus“ nicht erklären. Und nicht mal dann würden sie erklären, was „Habitus“ bedeutet. Ähnlich läuft es auch beim Name-Dropping: Du wirst kaum eine:n Student:in der Geisteswissenschaften treffen, der oder die nicht problematisiert, dass alle ständig irgendwelche Namen von vermeintlich wichtigen Menschen fallen lassen. Alle tun so, als fänden sie es voll elitär und alle machen es trotzdem. 

Die Gesten – Ablenkung ist alles

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Illustration: FDE

So, die Basis stimmt, jetzt kommt noch der Feinschliff: Die Gesten. Da gibt es eigentlich bloß eine fixe Regel: Sie sollten das Gesagte nicht unterstreichen, sondern eher davon ablenken. Deine Gesten dürfen nämlich auf keinen Fall so aussehen, als hättest du mal so ein Manager-Coaching-Video auf Youtube geschaut. Stattdessen sollten sie eher einer seltsam-nerdig-verschämten Performance gleichen, sie müssen unerwartet und etwas umständlich aussehen – so, als würdest du so intensiv mit Denken und Sprechen beschäftigt sein, dass du nicht merkst, was dein Körper da gerade veranstaltet. Berühre mit der linken Hand über deinen Oberkopf hinweg dein rechtes Ohrläppchen. Stütze dabei dein Kinn auf die rechte Faust (die Denkerpose, mein persönlicher Favorit). Irgendwie sowas. 

Am besten legst du dir eine Art signature Geste zu. Oder auch zwei, eine fürs gespannte Zuhören und eine fürs Monologisieren. Besonders beliebt sind Drehbewegungen mit den Händen. Das sieht dann so aus, als würdest du mit deinen Händen etwas umdrehen, oder an etwas herumschrauben („sozusagen an den imaginären Glühbirnen der Erleuchtung“). Graben oder wühlen geht alternativ auch. Das gibt deinen abstrakten Ausführungen so einen „materialistischen Touch“. 

Wenn du all das befolgst, dann bleibt dir jetzt eigentlich nur noch die Hoffnung, dass du im Seminar nicht an jemanden gerätst , der deine Performance durchschaut und dich zum Beispiel nach einem deiner abstrakten Monologe voller Substantivierungen fragt: „Wie ist das konkret zu denken?“ In diesem Fall hilft dann eigentlich nur noch eins: ganz viel Problematisieren. 

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