Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Wie mein Stottern mein Studium beeinflusste

Zu stottern, heißt nicht automatisch, schlechte Referate zu halten.
Illustration: Daniela Rudolf-Lübke / Foto: cookie_studio / Freepik

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Als ich mit 19 meinen Schulabschluss in der Tasche hatte, war ich erstmal erleichtert. Nicht nur über den Abschluss, sondern auch darüber, dass ich vorerst nicht mehr vor anderen Leuten sprechen musste. Denn Sprechen ist Stottern für mich, das ist so, seit ich denken kann. Als Kind war das kein Problem, aber mit zunehmenden Alter schämte ich mich dafür. Das hatte zur Folge, dass Reden für mich zur Stresssituation wurde und ich erst recht ins Stottern kam. Wie stark ich stotterte, variierte dabei von Situation zu Situation: Es gab Gespräche im vertrauten Kreis von Freund*innen, wo ich nur leicht an einigen Vokalen festhing und Silben wiederholte. Beim Vorlesen in der Klasse brauchte ich dann einen fünf Minuten langen Anlauf, um ein Wort auszusprechen.

In der Schule waren Stresssituationen für mich Referate und Vorträge. Schulstunden sortierte ich in „gut“ und „schlecht“ ein, je nachdem, ob die Lehrpersonen reihum vorlesen ließen und wann ich meine nächsten Vorträge hatte. In den meisten Fällen vermied ich, so gut es ging, vor versammelter Klasse zu sprechen: Bei Gruppenvorträgen überließ ich das Reden den anderen, zum freiwilligen Vorlesen meldete ich mich nicht und manchmal ging ich kurz auf die Toilette, wenn ich mit Lesen dran gewesen wäre.

Nach der Schule, sagte ich mir, wäre das vorbei. Die Universität stellte ich mir als einen Ort der großen Freiheit vor. Einen Ort, an dem ich mich unangenehmen Sprechsituationen einfacher entziehen könnte.

Es kam dann natürlich anders. Zu meinem Grauen setzten Universitäten dieselben Lehrmethoden ein wie Schulen. Es standen Vorträge und Referate auf der Tagesordnung, bei manchen Dozierenden floss es sogar in die Endnote ein, wie aktiv sich die Studierenden an Diskussionsrunden beteiligten. Wenn ich über mein Stottern mit anderen Mitstudent*innen sprach, versicherten sie mir, dass auch sie vor Referaten von Lampenfieber geplagt waren. Das half mir herzlich wenig. Schließlich ich war die einzige, die Angst davor hatte, beim Referieren die Kontrolle über den eigenen Sprechapparat zu verlieren, was ab und an auch passierte.

Tatsächlich blieb mein Stottern bis zum ersten Referat meistens unentdeckt

Die ersten Jahre meines Studiums liefen also ähnlich wie die Schulzeit: Ich versuchte, mein Stottern so gut wie möglich zu verstecken. Ich schwänzte etwa die erste Einheit vieler Kurse, um der Vorstellungsrunde zu entgehen. Wenn reihum vorgelesen wurde, verzog ich mich auf die Toilette und generell vermied ich Wortmeldungen. Tatsächlich blieb mein Stottern bis zum ersten Referat meistens unentdeckt. Dabei hätte ich es am liebsten rausgeschrien und alle davon in Kenntnis gesetzt, um endlich nicht mehr die Nicht-Stotternde spielen zu müssen.

Die Erkenntnis, dass Ausweichen keine Option ist, kam schleichend

Weil manche Sprechsituation an der Uni meist doch unvermeidlich waren, begann ich, mir Strategien zuzulegen. Durch mein allererstes Referat als Studentin flüsterte ich mich beinahe, weil die Körperspannung beim leisen Sprechen geringer war und ich somit dem Stottern erfolgreich entgehen konnte. Irgendwann wurde ich von einer Professorin dafür gescholten, dass ich zu leise sprach. Die Erkenntnis, dass Ausweichen keine Option ist, kam schleichend.  

Im ersten Schritt entwickelte ich ein perfektes Gefühl für mein Sprechen und lernte, Wörter im Vornherein blitzschnell zu ersetzen, wenn ich eine aufkommende Sprechblockade spürte. Die größten Veränderungen erfuhr ich aber durch eine Logopädin und Sprechtrainerin. Mit ihr trainierte ich mir eine langsame und ruhigere Sprechgeschwindigkeit an, um auch in Stresssituationen gewappnet zu sein. Sie war es auch, die mich raus holte aus meiner Vermeidungsstrategie und den Prozess lostrat, mein Stottern besser zu akzeptieren und trotz und mit dem Stottern zu sprechen.

Mittlerweile habe ich mehr Leichtigkeit im Umgang mit dem Stottern. Was mir in meinem Studium aber fehlte, war der Austausch mit anderen betroffenen Studierenden, mit denen ich mich austauschen konnte. Tatsächlich stottert Statistiken zufolge etwa ein Prozent der Bevölkerung

Ausweichverhalten verstärke den Teufelskreis und die Angstspirale und koste Lebensqualität

Ich frage mich, wie diese Menschen damit im Studium umgehen oder ob sie aus Scham gar nicht studieren. Dafür kontaktiere ich Georg Thum. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik an der LMU in München und betreut dort die Beratungsstelle für Betroffene und Angehörige. An viele stotternde Studierende, die sich an die Beratungsstelle richten, kann er sich nicht erinnern. Häufiger begegnet er ihnen hingegen in seiner logopädischen Praxis und in seiner Arbeit innerhalb der Intensivtherapie „Stärker als Stottern“ in München. Viele von ihnen, sagt er, handhaben das mit dem Stottern im Studium wie ich: Sie wenden Tricks an, um nicht als Stotterer*innen identifiziert zu werden. Deshalb dreht er meine Frage, wo denn die stotternden Student*innen geblieben sind, einfach um: Viele meiner Kommiliton*innen, sagt er, hätten mein Stottern vermutlich nicht bemerkt, und mich als unauffällige Mitstudentin gesehen. Wenn andere stotternde Student*innen genauso unauffällig sind wie ich, vermutet er, bleiben sie eben unsichtbar. Aber dieses Ausweichverhalten verstärke den Teufelskreis, verstärke die Angstspirale und koste am Ende viel Lebensqualität.

Die Angst, als Stotternde*r geoutet zu werden, ist Thum zufolge eine Falle, in die besonders jene Menschen mit leichter Stottersymptomatik tappen. Menschen wie ich also, die mal eben über Vokale stolpern und Blockaden mit einer Floskel flüssiger und diskreter gestalten. Stark stotternde Menschen könnten ihr Stottern hingegen ohnehin nicht verstecken und gerieten somit viel seltener in das Verhaltensmuster, wo Stottern um jeden Preis vermieden und versteckt wird.. „Deshalb haben sie es mitunter auf psychosozialer Ebene leichter“, sagt Thum. Viele Student*innen wüssten auch nicht, dass es EU-weit einen Nachteilsausgleich gibt, der auch diese Sprachbehinderung miteinbezieht. Das bedeutet, dass durch Behinderungen entstandene Nachteile im Studium auf verschiedene Art und Weise kompensiert werden.

Wenn Georg Thum über den Nachteilsausgleich redet, kommt er ins Schwärmen. „Das Tolle an dem Nachteilsausgleich ist es, dass er individuell gestaltet wird. Man kann etwa das eigene Referat am Platz im Sitzen halten, in der Gruppe, es auf Video aufnehmen, oder alleine vor dem Dozenten vortragen, oder einfach nur bei mündlichen Prüfungen einen Zeitzuschlag bekommen. Es wird überlegt, was für den Einzelnen sinnvoll ist und hilfreich, um seinen Nachteil formell auszugleichen“, erklärt er. Beantragen kann man den Nachteilsausgleich an der eigenen Universität, meist kümmert sich ein*e Behindertenbeauftragte*r darum. Dazu ist jedoch vorab ein ärztliches Attest notwendig, was bei Stottern auf Grundlage der Diagnose durch Sprachtherapeut*innen erfolgt.

Ich bin mir da nicht sicher, sage ich, ob ich mir nicht einen Vorteil erschwindeln würde mit dem Nachteilsausgleich, weil ich meistens mit stottere, ohne dass es jemandem auffällt. Thum siehst das anders: „Du hast durch dein Stottern Nachteile erlebt, unterhalb der sichtbaren Oberfläche, ob es jetzt Scham ist oder Angst vor dem Kontrollverlust. Diese Angst kann so tief im Nacken sitzen, dass man Sprechsituationen vermeidet. Für Laien ist das oft unverständlich, weil das Tückische beim Stottern ist, dass man am Schulhof super flüssig reden kann und eine Stunde später an der Tafel sehr viel stottert. Als Therapeut würde ich sagen, dass das Verstecken ein Folgesymptom vom Stottern ist.“

„In dem Moment, wo die Gelassenheit kommt, kann das Stottern weniger werden“

Dieser Nachteilsausgleich, sagt Thum, bedeutet für viele Menschen erstmals ein minimales Outing. Die Technik der Desensibilisierung sei ein für viele beschreitbarer Weg, um die Angstspirale zu verlassen. Schließlich wird es aufwendiger, das Muster von Flucht und Vermeiden abzulegen, desto länger es eintrainiert wurde. Von betroffener Seite, fügt er hinzu, hört es sich erstmal nach sehr viel an: Selbstbewusst zu stottern und über diesen Berg zu kommen, sich als Stotternder zu outen. „Aber in dem Moment, wo die Gelassenheit kommt, kann das stottern weniger werden. Es hört natürlich nicht automatisch auf, so einfach ist der Sachverhalt nicht.“ Dennoch ist sich Georg Thum sicher: Das Leben wird leichter, wenn man Stottern nicht vermeidet. Der Nachteilsausgleich ist ein Schritt in diese Richtung. 

Wenn ich auf mein Studium zurückblicke, hätte mir der Nachteilsausgleich wahrscheinlich sehr viel Druck genommen, zu den Normalsprechenden gehören zu müssen. Vielleicht hätte er mir viel früher mehr Gelassenheit im Umgang mit meinem Stottern beschert. Trotzdem hat mich mein Studium selbstbewusster gemacht: Referate halte ich mittlerweile entspannter als manche Mitstudierende, ich diskutiere auch gerne in Seminaren mit und das Telefonieren, Feind jedes stotternden Menschen, ist kaum noch ein Problem für mich. An mein Stottern habe ich mich gewöhnt, manchmal mag ich es nicht, oft vergesse ich darüber. Meistens gehört es aber zu mir.

  • teilen
  • schließen