Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Wenn ich die ganze Zeit mit meiner Machtlosigkeit hadere, geht es mir noch schlechter“

Viel allein daheim – wie schafft man es psychisch gesund durch die Krise?
Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Seit dem heutigen Montag gelten in ganz Deutschland verschärfte Kontaktbeschränkungen, um die Zahlen der Corona-Infektionen einzudämmen. Das soziale Leben wird eingeschränkt. Doch wie wirken sich diese Einschränkungen auf unsere Psyche aus? Was macht es mit uns, über lange Zeit weniger Freund*innen zu sehen, soziale Kontakte einzuschränken, viel allein zu sein? Darüber haben wir mit Hanna Christiansen gesprochen. Die Psychologie-Professorin ist Teil der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und wies bereits im Mai auf die psychosozialen Folgen der Corona-Pandemie hin. Ihre Fachgruppe machte in einer Stellungnahme deutlich, dass insbesondere Kinder und Jugendliche immensen Belastungen ausgesetzt sind und forderte „daher mit großer Dringlichkeit die Bundesregierung und die Landesregierungen auf, die Gruppe der Kinder und Jugendlichen erheblich stärker in den Fokus ihrer politischen Überlegungen zu stellen.“

jetzt: Wir alle müssen uns auf die neuen Corona-Maßnahmen einstellen. Insbesondere die Kontaktbeschränkungen wurden verschärft. Finden Sie das angemessen?

Hanna Christiansen: Ja, ich finde das angemessen. Mich hat gewundert, dass die Beschränkungen erst jetzt kommen. Wir hätten vor zwei Wochen schon wissen können, worauf wir zusteuern. Und was exponentielles Wachstum bedeutet, wissen wir im Grunde auch. Hinzu kommt, dass die Zahlen nur über das Infektionsgeschehen vor zehn Tagen Auskunft geben. Jetzt haben wir eine schärfere Situation als im März. 

interview psychische auswirkungen corona text

Hanna Christiansen (47) ist Professorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Philipps-Universität Marburg.

Foto: Tilman Fischer

„Ich kann mich an keine öffentliche Diskussion der psychosozialen Folgen erinnern“

Werden die psychosozialen Auswirkungen der Corona-Krise aus Ihrer Sicht ausreichend diskutiert?

Ich kann mich an keine öffentliche Diskussion der psychosozialen Folgen erinnern. Es gab unsere Stellungnahme und immerhin scheint im Bewusstsein der Politik angekommen zu sein, dass Schulen und Kitas nicht noch einmal geschlossen werden sollten. Gerade Jugendliche, Kinder und auch junge Erwachsene haben viele soziale Kontakte über diesen strukturierten Alltag. Ich denke zum Beispiel an die jungen Schulabgänger*innen, die vor wenigen Monaten Abitur gemacht haben. Sie hatten keine Abiturfeier und fangen jetzt unter ganz merkwürdigen Bedingungen an zu studieren oder eine Ausbildung zu machen. 

Warum ist das ein Problem?

Viele Strukturen, Orte, an denen man sich treffen kann, wo man Kontakte knüpfen kann, fallen jetzt größtenteils weg. Dabei befinden sich die Jugendlichen in einer wichtigen Phase, die für viele mit Ablösung und Auszug aus dem Elternhaus verbunden ist. Sie müssen sich neu zurechtfinden und dabei sind sie auf Kontakte angewiesen. Das alles geht jetzt nicht mehr, wenn die Kneipen und Kultureinrichtungen schließen. Außerdem werden an den Universitäten die Semester asynchron und online stattfinden. Es wird nur in sehr reduziertem Maß Face-to-Face Kontakte geben. Dazu hat aus meiner Sicht noch gar keine Debatte oder Auseinandersetzung stattgefunden.

„Die Schwächsten der Gesellschaft sind am stärksten betroffen“

Welche Rolle sollten diese Aspekte spielen, wenn die Politik weitere Maßnahmen und Beschränkungen beschließt?

Ich glaube, das sind sehr wichtige Aspekte! Klar, zum einen geht es um die physische Gesundheit, aber zum anderen ist da auch noch die psychische Gesundheit der Bevölkerung. Und wir wissen ja seit März und seit es dazu Studien gibt, dass diejenigen, die schon vorher psychisch erkrankt und belastet waren, besonders leiden. Es gibt aber auch eine Zunahme an psychischen Belastungen. Zum Beispiel hat die Studie von Frau Ravens-Sieberer gezeigt, dass Kinder und Jugendliche mit Belastungen auf die Pandemie reagieren.

Welche Gruppen in der Gesellschaft sind von den psychosozialen Folgen besonders betroffen?

Die Schwächsten der Gesellschaft sind am stärksten betroffen. Das sind zum einen Kinder und Jugendliche, aber auch Familien und Geflüchtete. Die Jugendlichen sind jetzt an die Familie gebunden, obwohl es ihre Aufgabe ist, Autonomie und Abgrenzung vom Elternhaus zu leisten. Dabei sind für diesen Prozess die Peers und Gleichaltrigen wichtig. Wenn jetzt wieder Kontaktbeschränkungen eintreten, wird das die Jugendlichen gravierend treffen. Oder denken Sie an Alleinerziehende, die jetzt wieder einen Spagat machen müssen. Es gibt derzeit Teilschließungen von Schulen, sodass einige Kinder wieder zu Hause bleiben müssen. Außerdem sind ältere, alleinstehende Menschen besonders von Einsamkeit betroffen. 

„Ich habe kürzlich von einer Studentin eine Mail bekommen, in der sie mir mitteilte, dass sie eine massive soziale Angststörung entwickelt habe“

Rechnen Sie mit psychosozialen Langzeitfolgen bei Jugendlichen?

Seit März werde ich das immer wieder gefragt. Es gibt noch keine guten Langzeitdaten dazu. Kinder und Jugendliche haben häufig auch gute Widerstandskräfte und sind resilient. Im Sommer konnten sie sich immerhin wieder treffen und ihr Verhalten hat sich geändert. Jetzt kommt die nächste Durststrecke. Ich glaube schon, dass die Ungewissheit darüber, was auf uns zukommt, etwas verändert. Aber damit setzen wir uns alle auseinander, weil wir wissen, dass die Pandemie kein kurzfristiges Ereignis ist. Unser Alltag hat sich ja auch schon tiefgreifend gewandelt. Ich habe kürzlich von einer Studentin eine Mail bekommen, in der sie mir mitteilte, dass sie eine massive soziale Angststörung entwickelt habe und deshalb nicht am Online-Austausch teilnehmen könne. Da zeigen sich schon Auswirkungen, die wir vorher so nicht gesehen haben.

Viele werden sich in den nächsten Wochen und Monaten Ängsten und Depressionen ausgesetzt sehen. Im Winter sind das ohnehin häufige Formen psychischer Belastung. Welche Ratschläge können Sie uns  geben?

Das Wichtigste ist, sich einen Plan zu machen und eine Struktur zu schaffen. Es ist wichtig, dass man einen geregelten Tagesrhythmus hat, dass man so gut es geht für sich sorgt und auch weiterhin Sport macht. Man darf sich ja draußen bewegen und spazieren gehen. Es ist auch ratsam, weiterhin den Kontakt zu Freunden zu pflegen und sich zu treffen. Natürlich unter den geltenden Beschränkungen und Maßnahmen. Zudem ist es sinnvoll, die sozialen Medien und die vielfältigen anderen Möglichkeiten der Vernetzung zu nutzen. 

„Viele Menschen erkennen, was wirklich wichtig ist, wie sie ihre Prioritäten setzen wollen“

Aber was tun gegen das Gefühl der Machtlosigkeit, das einem derzeit immer wieder begegnet?

Je mehr ich hadere und mir vor Augen führe, wie schrecklich alles ist, desto schlechter geht es mir. Besser ist es, die Situation radikal zu akzeptieren, da man sowieso nichts daran ändern kann. Wenn ich die ganze Zeit mit meiner Machtlosigkeit hadere, geht es mir nur noch schlechter. Die Frage ist eher, wie ich die Kontrolle zurück bekomme. Das haben auch viele Menschen intuitiv gemacht. Hamsterkäufe sind im Grunde ein Versuch, die Kontrolle zu erlangen. Das ist aber nicht so konstruktiv. Sinnvoller ist es sich zu fragen: Wie strukturiere ich meinen Tag? Was kann ich mir Gutes zu tun? Ich könnte zum Beispiel ein warmes Bad nehmen, ein gutes Buch lesen oder Musik hören. Solche Sachen sind hilfreich.

Ich muss mich also selbst austricksen. Wenn das nicht klappt, ab welchem Punkt sollte ich mir professionelle Unterstützung holen?

Diejenigen, die dazu keine Kraft haben und das nicht schaffen, denen würde ich wirklich raten sich Hilfe zu holen. Das ist aber individuell sehr unterschiedlich und das muss jeder für sich prüfen. Wenn ich das Gefühl habe, dass mir alles über den Kopf wächst, ich mich zu nichts mehr aufraffen kann, dauernd traurig, müde und niedergeschlagen bin, dann würde ich mir wirklich Hilfe suchen. Wenn ich das dringende Gefühl habe, dass ich die Situation nicht alleine bewältigen kann, dann würde ich mir Unterstützung holen.

Was können wir aus der sozialen Isolation lernen? 

Ich glaube, dass diese Situation auch eine Chance ist. Was sich zeigt ist zum Beispiel, dass viele Leute extrem hilfsbereit sind. Außerdem erkennen viele Menschen, was wirklich wichtig ist, wie sie ihre Prioritäten setzen wollen und was sich vielleicht auch anders lösen lässt. Ich habe zum Beispiel erkannt, dass viele meiner Dienstreisen nicht notwendig sind und ich gewisse Dinge auch online erledigen kann.

  • teilen
  • schließen