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Gentrifizierung: Das Aussterben von Schwulenvierteln
Moos wächst senkrecht die Wände hinauf und eine Welle aus Holzstäben schwebt über den Köpfen der Gäste des „Trisoux“, einer Bar in München. Sie lockt mit Coolness und Konzeptdesign, irgendwo zwischen bourgeois und bohème. Ein „Glory Hole“ erwartet man in dieser Kulisse genauso wenig wie günstige Getränke.
Eines von beiden gibt es aber doch: Das hüfthohe Loch in der Tür im Untergeschoss erzählt von einer Zeit, in der die Buchstaben BAU über der selbstklebenden Regenbogenflagge am Eingang thronten. Bis 2014 war der Bau eine der bekanntesten Bars des Münchener Glockenbachviertels. Mittlerweile ist die Gegend als großteils gentrifiziertes Feier- und Hipsterviertel bekannt. Vor zehn oder 20 Jahren noch als Schwulenviertel berühmt, bezeichnen den Stadtteil heute immer weniger Leute so.
„There goes the Gayborhood“
Das Glockenbachviertel in München, der Marais in Paris oder Schöneberg in Berlin machen eine Verwandlung durch: Sie werden von bunten Orten der Freiheit zu Szenevierteln, in denen man für 4,50€ auf Vitrastühlen kippelt und einen Coldbrew schlürft.
Auch die Studie „There goes the Gayborhood“ von der British Columbia University zeigt, dass in queeren Vierteln immer weniger queere Menschen leben. Das Forschungsteam fokussiert sich dabei auf Homosexuelle. In klassischen „Gayborhoods“ lebten 2010 zum Beispiel 13 Prozent weniger Lesben und acht Prozent weniger Schwule als zehn Jahre zuvor. Während die Mieten steigen, sinkt die Diversität.
Im „Trisoux“ zieht sich die schwule Geschichte auf das circa zehn Zentimeter große Loch in der Kellertür zurück, das früher dem anonymen Sex unter Männern diente. Im ehemaligen Darkroom dahinter steht heute die zweite Theke, die nur am Wochenende geöffnet ist. Mit dem Glory Hole kommentiert das „Trisoux“ nicht nur augenzwinkernd die schwule Vergangenheit der Bar. Es zitiert – vielleicht auch selbstironisch – die Verdrängung der Queerness an zwielichtige Orte.
Ein paar Häuser weiter: Im Fernsehen läuft eine kitschige ARD-Telenovela, im Plasmabildschirm spiegelt sich die goldene Ballon-Fünfzig von der Jubiläumsfeier des Ladens. Roland Scheibenzuber wischt nochmal über die rustikale Holztheke. Alles erinnert an eine Familienfeier im bayerischen Traditionslokal – bis auf den Käfig in der Ecke.
„Mit den Veränderungen sind viele Schwule und Lesben verdrängt worden“
Roland kocht sich einen Kaffee, das Haus wird heute wieder voll. Abend für Abend reicht er das Bier über die Theke des schwulen Fetischclubs „Ochsengarten“, wo Münchens Schwule schon miteinander anbandelten, als Homosexualität noch strafbar war. In den 80er-Jahren war Freddy Mercury einer der Stammgäste. Roland steht heute hinter der Bar und beteuert, dass die Kultserie „Kir Royal“ bei der Inszenierung der charakteristischen, exzessiven Partys im damaligen München nicht übertreibt.
Wenn er über das „Trisoux“ redet, spricht er von „was super Schickes mit fine drinking“. Auch ohne Augenzwinkern kommt ein bisschen Ironie mit über den Tresen. Gleich darauf wird er aber ernst: „Mit den Veränderungen sind viele Schwule und Lesben verdrängt worden.“ Freunde, die früher um die Ecke wohnten, sind wie er nach Giesing gezogen, manche sogar weiter raus nach Pasing oder Riem.
Mit „Veränderungen“ meint Robert unter anderem den Münchener Mietspiegel. Allein von 2008 bis 2018 ist der Preis für einen Quadratmeter in seinem Stadtteil von 10,60 Euro auf 18,10 Euro gestiegen, also um 71 Prozent.
Schwulenviertel werden immer mehr zur Attraktion
Trotz der Verdrängung legt Roland in München seinen Lappen neben eine volle Kasse, wenn er gegen halb vier Uhr nachts ein letztes Mal über den Tresen wischt. Immer mehr schwule Läden schließen. Die wenigen, die bleiben, machen im Moment deshalb etwas mehr Geschäft.
Obwohl die Bar weiterhin voll ist, hat sich einiges geändert: Früher kamen die Schwulen aus der Müller-, Pestalozzi oder der Klenzestraße – Stammgäste und Bekannte von nebenan. „Heute sind bis zu 40 Prozent Prozent meiner Gäste Touristen“, sagt Roland. Schwulenviertel werden immer mehr zur Attraktion. Schöneberg, das Glockenbachviertel oder Chueca in Madrid sind längst nicht mehr die Viertel der Schwulen, sondern Orte schwuler Geschichte, fast schon interaktive Museen. Diese Reiselust ins Reich der Schwulen und Lesben bezeichnet man als „Gay Tourismus“, auf der Reeperbahn gibt es dasselbe Phänomen für Transvestiten und Transsexuelle.
Bevor es Szeneviertel wurde, war das Glockenbach noch als „Glasscherbenviertel“ verschrien. Die Müllerstraße ist in den Achtzigerjahren nicht nur von „Boazn“ übersäht, sondern auch von schwulen und lesbischen Clubs, die trotz der Olympischen Spiele 1972 hier im Sperrgebiet geblieben waren oder danach eröffnet wurden.
1987 marschieren Demonstranten und Demonstrantinnen durch die Straßen und protestierten gegen die unmenschliche Aids-Politik der konservativen Regierung. Sie gehen gegen Zwangstests auf die Straße, gegen den Vorschlag von CSU-Politiker Peter Gauweiler, HIV-Positive öffentlich kenntlich zu machen und sie im Zweifelsfall „wegzusperren“.
Persönliche Entscheidungen wie Rolands Umzug nach Giesing haben eine politische Dimension
Die Bars und Clubs sind damals aber nicht nur Orte der politischen Mobilisierung, sondern verstärken auch die „Great Gay Migration“, also das Zusammenfinden von Homosexuellen in einem Viertel. Der Begriff stammt von der Anthropologin Kath Weston. Sie beschreibt, wo Homosexuelle hinziehen und wo sie ihre Zelte abbrechen. Kath Weston macht damit klar, dass scheinbar rein persönliche Entscheidungen wie Rolands Umzug nach Giesing eine politische Dimension haben. Die Wanderungsbewegungen sind aufschlussreich, weil sie neben Flucht und Verfolgung auch Schutzräume und Verdrängung anzeigen.
Jens Martin Gurr, Professor für Urbanistik, erzählt von den Anfängen der queeren Stadtteile: „Ein ganz früher Vorläufer ist zum Beispiel London-Soho in den 1720er-Jahren. Dort gab es eine recht hohe Konzentration von illegalen Gaybars.“ Ihre Besucher wurden allerdings zur Strafe erhängt. Es ist also noch ein weiter Weg, bis in den 1920er-Jahren zumindest für Schwule und Lesben Berlin-Schöneberg als „erstes modernes und überwiegend akzeptiertes Homoviertel“ entsteht.
Lange gibt es in vielen europäischen und amerikanischen Städten weiterhin nur einzelne queere Clubs. Erst ab den 60er-Jahren kommen, auch wenn es selbst aus dem Mund des Experten wie ein Klischee klingt, Cafés, Friseursalons und Blumenläden dazu. Die queere Community gestaltet, meist in etwas heruntergekommenen Arbeitergegenden, ihre Viertel.
In den Achtzigern und Neunzigern machte sich die erste Gentrifizierung eines Schwulenviertels im Marais in Paris deutlich bemerkbar. „Sehr reduzierend könnte man nach der Theorie des Ökonomen Richard Florida sagen, dass sichtbares Gaylife ein Viertel kreativ und reich macht“, erklärt Professor Jens Martin Gurr. Der Politikwissenschaftler Kenneth Sherrill schreibt: „Wir transformieren Nachbarschaften, die einst unbeliebt waren, in begehrenswerte Nachbarschaften, die zu teuer geworden sind.“ Diversität ist auch ein wirtschaftlicher Faktor.
„Queere Haushalte sind doppelt so oft arm wie der Rest der Gesellschaft“
Aber könnte es nicht auch ein gutes Zeichen sein, dass keine queeren Viertel mehr nötig sind? Weil sich die Gesellschaft verändert hat und Homosexuelle überall leben können? Weil sie sich nicht mehr in bestimmten Vierteln sammeln müssen, sondern in allen Stadtteilen akzeptiert werden? Weil es heute in einer Großstadt genug Bars gibt, in denen es keinen stört, wenn ein Mann einen anderen Mann küsst oder einen Rock und Wimperntusche trägt?
„Für Skandinavien oder Tel Aviv stimmt das vielleicht“, kommentiert Gurr etwas skeptisch. Schlagartige Akzeptanz ist aber in den wenigsten Fällen der Grund, weiter „raus“ zu ziehen. „Queere Haushalte sind doppelt so oft arm wie der Rest der Gesellschaft und werden daher ziemlich schnell verdrängt“, sagt Gurr.
Das Phänomen nennt sich Sexual Pay Gap: Offen schwul lebende Männer verdienen laut des Instituts für deutsche Wirtschaftsforschung bei selber Qualifikation im Schnitt 2,14 Euro weniger pro Stunde, sogar wenn sie in derselben Branche tätig sind. Es gibt dafür keine logische Erklärung. Lesbische Frauen verdienen zwar im Schnitt 70 Cent mehr als ihre heterosexuell lebenden Kolleginnen. Als Paar zusammen aber sogar bei selber Arbeitszeit, Qualifikation und Branche dank des Gender Pay Gaps immer noch weniger als heterosexuelle Paare. Für andere queere Gruppen wurde der Zusammenhang bisher noch nicht erforscht. Das Bild vom reichen, konsumfreundlichen Homosexuellen enttarnt die Statistik jedenfalls als Mythos.
Laut der Soziologin Sharon Zukin sind lesbische Paare wegen ihres niedrigeren Einkommens oft nicht nur die ersten Opfer der Gentrifizierung, sondern auch ihre Pionierinnen. Sie sind sehr früh im Viertel, weil es dort billig ist und übernehmen bestehende Strukturen. Ihnen folgen Schwule, die meist sichtbarer sind und eigene Bars eröffnen, bis schließlich der heterosexuelle, wirtschaftlich gutsituierte Mainstream das Viertel erreicht. Auf das Beispiel Glockenbachviertel trifft dieses Muster vollkommen zu. Als alteingesessene lesbische Bars wie „Clara“ nach über 30 Jahre schließen, gibt es keine permanenten Nachfolgerinnen, die sich die Miete leisten könnten.
„Was einmal weg ist, ist weg“
Für die USA ist die Kausalität zwischen queerer Kultur und steigenden Preisen genauer untersucht als für Deutschland und Europa: „In Gegenden, in denen schwule Haushalte mehr als ein Prozent ausmachen, steigt der Mietpreis um 14 Prozent. In Gegenden mit einem vergleichbaren Anteil an lesbischen Haushalten beobachten wir eine Mietpreissteigerung um 16,5 Prozent, während der nationale Durchschnitt bei 10 Prozent liegt“, belegt die Studie der British Columbia.
Die neuen Bewohner im Glockenbachviertel seien sehr nett und respektvoll, betont Barkeeper Roland Scheibenzuber. Durch das neue Publikum in der Gastro sehe er aber auch Dinge, von denen er dachte, dass wir diese Zeiten längst überwunden hätten. Neben kleinen Pöbeleien, bei denen sich der Wirt auf das Hausrecht berufe, würden draußen einige sogar standardmäßig die Straßenseite wechseln oder einen Bogen um seine Gäste machen.
So verlockend es auch sein mag, in hippen Cafés zu sitzen: „Was einmal weg ist, ist weg“, sagt Roland. Nach einer Pause fügt er hinzu „und zwar für immer.“