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„Alles, was ich jetzt bin, hängt von meiner Migräne ab“

Chronische Kopfschmerzen können Betroffenen das Leben zur Hölle machen.
Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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Nach dem Abitur fährt Janas Abschlussklasse nach Lloret de Mar in Spanien auf Abifahrt. Für Jana ist jedoch im Vorhinein klar, dass sie nicht mitkommen wird. Alkohol trinken, mit mehreren Leuten in einem Zimmer schlafen und lange Fahrten oder Flüge sind für sie nicht ohne extreme Schmerzen möglich. Denn was die heute 21-Jährige von ihren Mitschüler*innen unterscheidet, ist ihre chronische Migräne, die sie seit circa dem achten Lebensjahr begleitet.

Ihren Nachnamen möchte Jana nicht öffentlich machen, da sie befürchtet, dass ihre Migräne potentielle Arbeitgeber abschreckt. Wenn sie eine Attacke hat, spürt Jana nicht nur extreme Kopfschmerzen und Übelkeit, sie nimmt auch die Realität kaum noch war, fühlt sich wie in Trance. Dann dunkelt sie das Zimmer komplett ab, legt sich mit einem Kühlbeutel ins Bett und versucht zu schlafen. Häufig nimmt sie auch Triptane, sehr starke Schmerzmittel, die aber nicht zu häufig eingenommen werden dürfen. An circa neun Tagen im Monat ist sie von Migräne betroffen, dazu kommen sechs weitere Tage mit normalen Kopfschmerzen.

Durch die daraus entstehenden Einschränkungen, hat Jana einen Behinderungsgrad von 40. Dennoch besuchte sie eine Regelschule, einen Nachteilsausgleich bekam sie dabei nicht. Nach dem Abitur wollte sie trotz der Einschränkungen studieren. Eine Behindertenbeauftragte und eine Therapeutin rieten ihr davon ab. „Das war schon ein Schlag in die Magengrube“, sagt Jana. Sie wollte es aber nicht unversucht lassen und zog für ein Biologiestudium von Berlin nach Mecklenburg-Vorpommern. Zurzeit schließt sie ihren Bachelor nach sechs Semestern mit einem Einser-Schnitt ab. Dennoch plagen Jana Zukunftsängste: „Dadurch, dass es mir häufig so schlecht geht, sehe ich mich oft nicht im Arbeitsleben. Klar muss ich das probieren, aber ich kann mir im Moment nicht vorstellen, wie das klappen soll.“

Jana ist eine von rund 18 Millionen Deutschen, die unter Migräne leiden. Da sie an mindestens 15 Tagen pro Monat Migräne oder Kopfschmerzen hat, gilt ihre Migräne als chronisch. Die genaue Ursache von Migräne konnte bisher nicht geklärt werden. Durch medikamentöse Prophylaxe oder Entspannungstherapie kann man Attacken zwar vorbeugen, eine nachweislich heilende Therapie existiert jedoch nicht. Was man aber weiß: Frauen sind etwa viermal häufiger betroffen als Männer. Eine chronische Migräne geht außerdem häufig mit depressiven Erkrankungen einher.

Zukunftsängste spielen eine große Rolle

Laut Schmerzpsychotherapeutin Eva Liesering-Latta liegt das meist an einer wechselseitigen Verstärkung von Migräne und psychischer Belastung. Die Unvorhersehbarkeit von Migräneattacken könne dazu führen, dass sich Betroffene vermehrt zurückziehen, was depressive Stimmungslagen begünstigt. Depressionen bedeuten wiederum eine geringere Stressbelastbarkeit und haben sich als Risikofaktor für eine Chronifizierung von Migräne erwiesen. Der Migräneschmerz kann sich im Laufe des Lebens jedoch auch verändern, ebenso wie die Häufigkeit. Oft lässt die Migräne ab dem 30. Lebensjahr nach, dennoch verschlimmert sie sich auch bei einigen Betroffenen mit dem Alter.

Die Erkrankung beeinträchtigt die Betroffenen im Alltag enorm, denn der Schmerz ist sehr viel stärker als ein normaler Kopfschmerz. Häufig klagen Migräniker*innen auch über eine stark beeinträchtigte Denkleistung und Übelkeit. Für Betroffene bedeutet das, ständig mit unvorhersehbaren Ausfallzeiten konfrontiert zu sein. „Für junge Erwachsene ist das eine besondere Herausforderung, denn in diesem Alter spielt das Thema Krankheit und eine eingeschränkte Funktionsfähigkeit normalerweise keine große Rolle“, sagt Liesering-Latta. Sie betreut in der Migräne- und Kopfschmerzklinik Königstein viele Migräniker*innen als Schmerzpsychotherapeutin. Durch ihre Arbeit sieht sie, wie die Krankheit das Erwachsenwerden junger Migräniker*innen prägt. Zukunftsängste, wie Jana sie beschreibt, spielen dabei eine große Rolle.

Durch eine Therapie sollen Betroffene bei der Krankheitsbewältigung unterstützt werden. Heilen kann die Therapie die Migräne zwar nicht, sie versucht jedoch Attacken entgegenzuwirken und einen Umgang mit der eigenen Krankheit zu entwickeln, der die Migräne nicht auch noch begünstigt. So sollen beispielsweise persönliche Migränetrigger herausgefunden werden, die Stressbewältigung unterstützt und günstige Lebensstilfaktoren – beispielsweise regelmäßige Entspannungsübungen – aufgebaut werden. 

„Das Vertrauen in den eigenen Körper kann durch die Migräne stark erschüttert werden“

Auch Sophie Fehr und Katharina Egerer hatten insbesondere während der Jobsuche große Ängste. Sophie ist 24 Jahre alt, lebt in der Nähe von Memmingen. Sie hat Migräne, seitdem sie denken kann. Im Kindes- und Jugendalter hat sie an mindestens 15 Tagen im Monat Migräne oder Kopfschmerzen. Durch medikamentöse Prophylaxe konnte sie die Schmerztage mittlerweile auf circa vier pro Monat reduzieren.

Ursprünglich wollte Sophie als Fremdsprachenkorrespondentin arbeiten, jetzt ist sie seit einigen Monaten als Reinigungskraft in einem Gästehaus tätig. Der Vollzeitjob im Büro als Fremdsprachenkorrespondentin war mit der Migräne nicht vereinbar – zu viel Stress und Leistungsdruck. Das löst bei Sophie und anderen Migräniker*innen häufig Attacken aus. Es reicht aber oft auch nur sehr helles Licht oder Lärm – alle drei Frauen erzählen, dass die Migräneschübe durch sehr willkürliche Sinnesreize ausgelöst werden können. Drei Jahre hat Sophie in verschiedenen Bürojobs gearbeitet, denn über die Probezeit kam sie durch häufige Fehlzeiten nie hinaus. Auch wenn Sophie jetzt deutlich seltener Migräne hat und sie sich in ihrem Job wohl fühlt, sind die Ängste nicht verschwunden.

„Die Migräne verändert sich ständig. Es ist unberechenbar, wie stark oder wie oft der Schmerz kommt“, sagt sie. Auch Katharina aus Nienburg/Weser bestätigt das. Sie ist 35 Jahre alt und steht als Tierarzthelferin fest im Berufsleben. Seit sie zehn ist, hat sie Migräne. Die Ängste, die mit der Krankheit einhergehen, kennt sie besonders aus ihren Zwanzigern beim Berufseinstieg. „Ich habe aber immer noch Sorgen, dass die Migräne irgendwann noch schlimmer werden könnte und frage mich, wie es dann mit meinem Leben weitergehen würde“, sagt Katharina. Denn bisher hat sie noch keine Migräne-Prophylaxe gefunden, die über einen langen Zeitraum bei ihr wirkt.

Liesering-Latta erklärt die Ängste unter anderem mit dem Kontrollverlust, der mit der Migräne einhergeht: Man könne sich nicht auf die eigene Funktionsfähigkeit verlassen. „Das Vertrauen in den eigenen Körper kann durch die Migräne stark erschüttert werden“, erklärt Liesering-Latta. Im jungen Erwachsenenalter, in dem sich die Identität maßgeblich entwickelt, führe das häufig zu einer starken Verunsicherung. Die Psychologin beobachtet häufig, dass ihre Patient*innen den Kontrollverlust mit Perfektionismus und extremer Strukturiertheit kompensieren.

„Ich habe alles vermieden, was Stress erzeugen könnte”

Sophie erkennt diese Eigenschaften bei sich selbst: „Ich bin übervorsichtig und muss immer die Kontrolle über die Situation haben, obwohl ich mittlerweile ja sogar weniger Migräne habe.“ Make-up und Outfit für Partys hat sie sich als Teenagerin immer schon am Vorabend vorbereitet – der Abend musste komplett durchgeplant sein. Wenn bei der Vorbereitung schon irgendetwas nicht klappte, war der Abend für Sophie gelaufen.

Auch Biologie-Studentin Jana beschreibt sich selbst als Perfektionistin: „Meine Strukturiertheit ist dadurch entstanden, dass ich alles frühzeitig planen muss, weil mir die Migräne sonst meine Pläne durchkreuzt. Alles, was ich jetzt bin, hängt von meiner Migräne ab.“ Unzufrieden ist sie mit dieser Eigenschaft jedoch nicht. Im Gegenteil: Jana ist stolz, dass sie durch ihr gutes Zeitmanagement als Einzige ihres Jahrgangs das Studium in Regelstudienzeit abschließt. „Mit Migräne lernt man, seine Zeit gut einzuteilen und rechtzeitig mit dem Lernen anzufangen“, sagt sie.

Sophie dagegen stört ihr eigener Perfektionismus. Bis heute will sie alles Unvorhersehbare vermeiden, aus Angst, dass es eine Migräneattacke auslösen könnte. Als sie noch sehr häufig Migräne hatte, ging sie kaum aus dem Haus. „Jeder Reiz konnte die Migräne auslösen. Manchmal war das nur die blendende Sonne“, sagt sie. Seitdem sie durch die medikamentöse Prophylaxe seltener Migräne hat, hat ein neuer Lebensabschnitt für sie begonnen. Sie geht wieder regelmäßig spazieren, spielt mit ihrem Ehemann abends Computerspiele und macht Tagesausflüge. Sie sagt aber auch, sie sei traurig, dass sie viele Dinge aufgegeben hat und sich heute nicht mehr traut damit anzufangen: Auf Partys gehen, Jazzdance, Ju-Jutsu, Theaterspielen.

„Ich werde damit leben müssen und ich will einfach meinen Frieden damit schließen”

Dass Migräniker*innen viele Dinge vermeiden, sieht Liesering-Latta auch oft bei ihren Patient*innen. Diese Tendenz habe zwei Seiten. „Häufig werden Herausforderungen nicht als Chancen gesehen, sondern als Risiko, Anforderungen durch die Krankheit nicht gerecht zu werden. Im jungen Erwachsenenalter werden aber viele Weichen fürs Leben gestellt, wenn ich dann Chancen nicht wahrnehme, kann das später auch die berufliche Laufbahn und das Selbstvertrauen nachhaltig beeinträchtigen“, sagt die Psychologin zum einen. Zum anderen könne Verzicht manchmal aber auch eine sinnvolle Entscheidung sein. „Manche Betroffene neigen eher zur ungünstigen Durchhaltestrategie und muten sich damit viel Stress zu. Im schlimmsten Fall kann das die Migräne verstärken oder chronifizieren“, erklärt Liesering-Latta. Dass junge Erwachsene besonders viele wichtige Entscheidungen treffen müssen, etwa die Ausbildungs- oder Berufswahl betreffend, könne einen hohen Stressfaktor darstellen.

Katharina bestätigt, dass der Stress in ihren Zwanzigern besonders intensiv war. „Jetzt läuft ja alles in der Bahn und ich muss nur schauen, dass es mich nicht mehr raushaut. Aber als ich von zu hause ausgezogen bin und noch nichts sicher war, habe ich ständig gegrübelt, wie das mit der Migräne alles klappen soll“, sagt sie. Besonders belastend war für sie der Gedanke, finanziell auf eigenen Beinen stehen zu müssen. Auch heute versucht sie deswegen trotz eines Migräneanfalls weiterzuarbeiten.

Für Sophie stehen aktuell zum ersten Mal die Chancen sehr gut, nach der Probezeit als Reinigungskraft übernommen zu werden. Ihrem ursprünglichen Berufswunsch Fremdsprachenkorrespondentin trauert sie nicht nach, denn der Leistungsdruck in dem Beruf hat ihre Migräne damals verschlimmert. Außerdem mag sie ihre aktuelle Arbeit und fühlt sich bei den Kolleg*innen wohl.

Jana dagegen plant einen Master in Biochemie. Im Studium fühlt sie sich sicher, da sie hier ihre Zeit flexibel einteilen kann. Wie es danach weitergeht, weiß sie noch nicht. Jana hofft, irgendwann mit der Krankheit glücklich leben zu können: „Ich werde damit leben müssen und will einfach meinen Frieden damit schließen, sodass ich die Migräne akzeptiere, aber mich nicht immer davon runterziehen lasse.“

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