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Was passiert, wenn man sich minutenlang nur in die Augen schaut?

Foto: Karsten Schneeberger

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Zwei kleine Fliegen tanzen um Renatos Nase herum. Er wedelt mit seiner Hand wild durch die Luft und versucht, die Tierchen zu verscheuchen. Es gelingt nicht, Renato lacht. Während des Fliegentanzes schaut Renato mir ununterbrochen in die Augen. Schon seit gut fünf Minuten schauen wir uns nur an. Wir kennen uns nicht und haben noch kein Wort miteinander gewechselt. Ich weiß nicht mal, dass er Renato heißt. Das werde ich erst zehn Minuten später erfahren.

Renato und ich nehmen zusammen mit rund vierzig anderen Menschen am Eye-Contact-Event München teil. Die Idee dazu entstand in Australien. Inspiriert von der Performance-Künstlerin Marina Abramovic, die 2010 im Moma in New York als Teil einer Performance 700 Stunden lang Besuchern der Ausstellung in die Augen geschaut hat, veranstaltete die Gruppe „the Liberators“ im Herbst 2015 das erste Eye Contact Event. Seit 2016 gibt es auch Treffen in München, früher in Cafés, seit der Corona-Krise im Englischen Garten. Menschen, die sich nicht kennen, setzen sich gegenüber voneinander und schauen sich 15 Minuten lang stumm in die Augen. Nach dem Augenkontakt ist Zeit zu quatschen und sich kennenzulernen, bevor man den/die Partner*in wechselt und mit der nächsten Runde „Anstarren“ beginnt. 

Der Organisator Marco van Bree findet: „Das ist etwas, was die Welt sehr gut gebrauchen kann.” Der stumme Augenkontakt helfe dabei, eine bessere Verbindung zu sich selbst und anderen Menschen aufzubauen. Im Kunstunterricht habe ich vor Jahren ein Video über Marina Abramovics Performance im MoMa gesehen. Es war berührend, manchmal brachte Abramovic ihr Gegenüber zum Weinen, manchmal weinte sie selbst. Mich hat die Performance damals sehr überrascht. Zwei Menschen kamen sich näher und das ganz offensichtlich ohne das sie auch nur ein Wort sagten.

Auf Youtube gibt es mittlerweile unzählige, teils herzerwärmende Videos davon

 

Wie das funktionieren soll, frage ich mich auch heute noch. Ich bin davon überzeugt, dass zwei Menschen sich durch ehrliche und intensive Gespräche am nächsten kommen. Also genau das Gegenteil vom stummen Augenkontakt. Irre ich mich vielleicht? Längst ist Abramovic nicht mehr die einzige, die unbekannten Menschen in die Augen schaut. Auf Youtube gibt es mittlerweile unzählige, teils herzerwärmende, teils übertrieben kitschige Videos von Menschen, die sich stumm anstarren und sehr emotional werden. Menschen verlieben sich ineinander, zerstrittene Geschwister versöhnen sich, alte Freunde finden wieder zueinander. Ich möchte herausfinden, was dran ist an den Erzählungen und Videos und nehme am Eye-Contact-Event im Englischen Garten teil.

Mittlerweile sind die Fliegen weg und Renatos Miene ist wieder ernst geworden. Er blinzelt kaum und seine kleinen grünen Augen schauen mich eindringlich an. Ich bin nervös. Was wird in den nächsten Minuten passieren? Der Veranstalter hat mir vorhin noch von den tiefen Gefühlen erzählt, die der Augenkontakt hervorrufen könne. Manche Menschen würden weinen, andere lachen. Ich solle mich ganz locker machen und meine Gefühle einfach zulassen. Ich weiß nicht so recht. Ich tue mich immer noch schwer diesen ganzen „die Augen sind das Fenster zur Seele“- Bums zu glauben. Es sind doch nur Augen. Trotzdem bin ich aufgeregt. Bestimmt auch, weil die Situation mich ans Flirten erinnert. Obwohl das Ganze bis auf das lange Anschauen wenig Ähnlichkeiten mit Flirten hat. Unsere Blicke sind nicht flirty, niemand sagt etwas, über das man herzlich lachen könnte, um zu gefallen. Doch die intensive Blicke reichen, um mein Herz schneller schlagen zu lassen. 

Ich versuche Renatos Blick zu verstehen. Seine olivgrünen Augen sehen ernst und ein kleines bisschen traurig aus. Was macht ihn wohl traurig? Ich überlege mir auch, was mich zurzeit traurig macht. Was denkt er über mich? Was sieht er wohl in meinen Augen? Es fühlt sich so an, als würde ich eine unbekannte Person in mein Zimmer bitten und sie könnte sich dort ungestört umschauen. Dann denke ich wieder, dass das völliger Quatsch ist. Er kann sich überhaupt nicht umschauen, denn ich zeige ihm ja nichts. Ich erfahre ja auch nichts Privates über ihn, wie sollte er dann meine tiefsten Geheimnisse in meinen Augen entdecken? Langsam beruhigt sich mein Puls und ich bin nicht mehr ganz so aufgeregt wie in den ersten paar Minuten. 

Nach 15 Minuten erzählt Renato mir, dass er gar nicht traurig war, sondern einfach nur ein bisschen müde. Hah, von wegen Augen lügen nicht. 

Als wir uns danach unterhalten, sieht er auch gar nicht mehr so traurig aus. Für Renato ist es heute nicht das erste Mal, dass er an einem Eye-Contact-Event mitgemacht hat. Er lebt noch nicht so lange in München und sieht darin eine coole Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen. Große Gefühlsausbrüche hat er dabei aber noch keine erlebt.

Wenn ich Blicke analysieren müsste, dann wäre Renato selbstbewusst, Fen eher zurückhaltend und schüchtern

 

Als Marco die nächste Runde ankündigt, verabschieden wir uns. Alle Teilnehmer*innen schwirren ein bisschen hilflos umher. Ich setze eine Runde aus und schaue mir die Gruppe genauer an. Ein dünner Mann um die 60 sitzt einer Frau mit langem Rock und braunen Rastalocken gegenüber. Ein junger Mann mit Hemd und Aktentasche schaut einem anderen Mann lachend in die Augen. Einige sehen aus, als kommen sie gerade von der Arbeit, andere als hätten sie den ganzen Tag in der Sonne im Englischen Garten verbracht. Um uns herum prosten die Leute sich mit ihrem Feierabendbier zu, reden und lachen laut. Die Stille der gut 40 Leute, die am Eye-Contact-Experiment mitmachen, wirkt unpassend. 

Die 15 Minuten sind vorbei, eine kleinere Frau mit gelbem Oberteil lacht mich an und wir verabreden uns mit einem Kopfnicken für die nächste Runde. 

Mir fällt sofort auf, dass Fen, so ihr Name wie ich später erfahre, nicht so eindringlich schaut wie Renato. Wenn ich Blicke analysieren müsste, dann wäre Renato selbstbewusst, Fen eher zurückhaltend und schüchtern. In ihren Augen kann ich im Vergleich zu Renato kaum Emotionen ablesen. Obwohl ich ja auch bei Renato falsch lag. Fen scheint wenig zu sagen mit ihren Augen, vielleicht kann ich ihre Blicke auch nicht verstehen. Wenn die Augen das  Fenster zur Seele sind, bin ich vielleicht einfach zu blöd, um durch die Scheibe zu gucken, weil der Rollladen klemmt oder ich den Vorhang nicht zur Seite ziehen kann...oder so.

Mein Augenkontakt mit Fen verrät mir wenig über die Frau im gelben T-Shirt. Vielmehr kreisen meine Gedanken um mich, um meinen Tag und um die Frage, was ich wohl aus dieser Erfahrung mitnehme. Das minutenlange Starren hat fast etwas Meditatives. Meine Gedanken und meine Blicke wandern nicht wild umher, sondern sind sehr fokussiert. Als die 15 Minuten vorbei sind, sagt Fen mir, dass es ihr ähnlich ging. Fen kommt aus China, nach einem Praktikum in München ist sie einfach geblieben. Wir unterhalten uns über München und lachen viel. Mit Renato war es mir schon aufgefallen, mit Fen merke ich es noch mal mehr: Small-Talk fühlt sich lächerlich einfach an, wenn man sich vorher schon 15 Minuten angestarrt hat. Nur ungern beenden Fen und ich unser Gespräch, doch die nächste Runde beginnt. Nach 30 Minuten Augenkontakt habe ich aber noch immer in keine Seele geschaut. Ich wage also noch eine dritte Runde Starren.

Mein Gehirn fleht mich förmlich an: Schau weg, guck, was um dich herum passiert!

Mein letzter Anstarrpartner stellt sich schon vor dem Anstarren vor. Abrar ist, so wie ich, zum ersten Mal beim Eye-Contact-Experiment. Zu Beginn lacht er immer wieder auf, er wirkt ein bisschen nervös. Vielleicht lacht er aber auch nur einfach gerne. Es ist anders als mit Fen, unsere Gesichtszüge spiegeln sich: wenn er lacht, lache ich auch. Aber ich kann mich auch schlechter konzentrieren. Um uns herum spielen Menschen Volleyball, trinken Bier, unterhalten sich. Es gibt eine Menge Ablenkung, der meine Augen gerne verfallen würden. Mein Gehirn fleht mich förmlich an: Schau weg, guck was um dich herum passiert! Doch ich widerstehe dem Gedanken und schaue nur in die dunkelbraunen Augen von Abrar. Als die Runde vorbei ist, bin ich erleichtert. Es kostet viel Konzentration so lange Augenkontakt zu halten. Abrar scheint es ähnlich zu gehen. Er schüttelt seine Arme aus und lehnt sich zurück.

Gefühlsausbrüche habe ich bei dem Experiment nicht erlebt, weder von mir selbst, noch von den anderen Menschen um mich herum. Ich muss an Marcos Worte denken. Trotz ausbleibender Gefühlsausbrüche sollte er Recht behalten. Ich habe eine Verbindung zu drei Unbekannten aufgebaut und durch das teilweise meditationsähnliche Gefühl auch zu mir.

Außerdem: Wer schon mal aus Versehen einer unbekannten Person ein paar Sekunden länger als gewöhnlich in die Augen geschaut hat, weiß: Augenkontakt ist Adrenalin pur. Zwischen den einzelnen Runden habe ich beobachtet, dass viele „Anstarrpartner“ im Nachhinein Nummern austauschen. Auch ich wurde nach meiner Nummer gefragt. Eigentlich auch naheliegend: Man lernt neue Leute kennen, findet sie nett, fragt nach der Nummer. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das Eye-Contact-Treffen wirklich so gut geeignet ist, um Leute kennenzulernen. Denn das Treffen geht insgesamt zwei Stunden und erst danach hat man, abgesehen von den kurzen Gesprächen zwischendurch, Zeit sich zu unterhalten. Wer also wirklich Menschen kennenlernen will, braucht ziemlich viel Geduld. 

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