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3200 Euro brutto für die Heilerziehungspflegerin

Foto: Privat / Bearbeitung: jetzt

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Was macht man als Heilerziehungspfleger*in?

Ich pflege, erziehe und fördere Menschen mit einer geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderung. Und wenn das möglich ist, unterstützt und begleitet man sie bei der sozialen und beruflichen Eingliederung. Ich arbeite in einer stationären Einrichtung, in der Menschen mit Behinderung in Wohngemeinschaften zusammenleben. Meine Wohngruppe besteht aus neun Leuten zwischen 25 und 71 Jahren, die alle eine schwere geistige Behinderung haben, teilweise mit Auto- und Fremdaggressionen. Gruppen wie meine nennt man „Intensiv-Pflegegruppen“. Das bedeutet, dass die Menschen nicht verkehrstüchtig sind und nur in unserer Begleitung rausgehen dürfen.

Wie sieht der Alltag in deiner Wohngruppe aus?

Wir übernehmen sozusagen die Aufgaben einer Mama oder eines Papas. Wir helfen den Leuten morgens beim Anziehen, wir planen den Alltag mit ihnen, wir bringen sie zur Arbeit, wir kochen zusammen und machen eine gemeinsame Freizeitgestaltung. Die meisten Menschen in meiner Gruppe besuchen aktuell eine Fördergruppe, in der sie verschiedene Angebote wie Kunst- und Musiktherapie bekommen. Der Rest bekommt währenddessen Einzelangebote in der Wohnung. Oder wir machen gemeinsam die Wäsche, bereiten das Mittagessen vor, backen Kuchen für den Nachmittag und gehen zusammen einkaufen. Das geht natürlich seit Corona nicht mehr so einfach. Nachmittags gehen wir trotzdem noch oft Spazieren und bei schlechtem Wetter gehört für viele Fernsehen zur Tagesroutine.

Eine große Rolle spielt auch die Intensivbetreuung für jeden Einzelnen. Das heißt, wir bringen den Menschen Dinge bei, bei denen sie im Alltag Schwierigkeiten haben. Wenn sich zum Beispiel jemand beim Kaffeekochen oder beim Schuhebinden schwertut, zeigen wir auf spielerische Weise mit Bildkarten oder Memory-Spielen, wie das geht.

Wie bist du auf die Idee gekommen, Heilerziehungspflegerin zu werden?

Ich habe nach der Schule eine Lehre zur Automobilkauffrau gemacht, dann aber gemerkt, dass ein Bürojob nichts für mich ist. Ich hatte erstmal keine Ahnung, was ich stattdessen machen soll. Eine Freundin, die in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung arbeitet, hat mir bei einem Kaffee von einer neuen Wohngruppe erzählt und mich gefragt, ob ich da nicht mal vorbeischauen will. Ich habe damals abgelehnt. Für mich war das eine Horror-Vorstellung, fremde Menschen zu duschen und ihnen den Hintern zu putzen. Auch weil ich einfach massiv Angst davor hatte, etwas falsch zu machen. Ich dachte, ich kann das nicht.

Und dann hast du dich umentschieden?

Meine Freundin hat mir dann einfach hinter meinem Rücken ein Zwei-Tages-Praktikum organisiert. Und meine Mama hat mir zuhause so ins Gewissen geredet, dass ich hingegangen bin. Am zweiten Tag habe ich eine durch einen Unfall querschnittsgelähmte Frau kennengelernt, die kognitiv komplett gesund war. Die war 25 Jahre alt, ich 19. Sie hat mich angeschaut und gesagt, wie froh sie wäre, wenn endlich einmal eine junge Frau ihr helfen, mit ihr duschen gehen und mit ihr über Männerprobleme reden würde. Mit diesen Worten hatte sie mich. Ich bin dort ein ganzes Jahr geblieben. Anfangs mehr aus Mitgefühl als aus dem Willen zu dieser Arbeit. Inzwischen kann ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen.

Hat der Beruf deine Sicht auf Menschen mit Behinderung verändert?

Ja, komplett. Für mich haben die Leute einfach keine Behinderung mehr. Man lernt alle ja immer nur als Menschen kennen. Ich habe außerdem sehr schnell gelernt, mit der Situation umzugehen. Ganz am Anfang hatte eine Rollstuhlfahrerin, die sich über ihren Rollstuhl übergeben hat. Ich war zu dem Zeitpunkt alleine in der Wohngruppe und musste dann einfach selbst ran. Seitdem habe ich auch keine Berührungsängste mehr.

Würdest du dir von anderen einen besseren Umgang mit Menschen mit Behinderung wünschen?

Ich war mal mit einer Wohngruppe in einer Pizzeria. Eine der Bewohnerinnen hatte eine Kopffehlstellung. Sie hatte deshalb zum Essen einen Kleiderschutz an und hat versucht, ihre Spaghetti in ihren Mund zu bekommen, was ja auch für Menschen ohne Kopffehlstellung nicht immer die leichteste Aufgabe ist. Ein älteres Ehepaar ist dann zu uns rübergekommen und hat gesagt, dass sie so etwas Ekelhaftes beim Essen nicht sehen wollen. Situationen wie diese gibt es schon immer wieder, gerade bei der älteren Generation. Man spricht ganz oft von Inklusion, aber davon bekomme ich noch nicht so viel mit.

Welches Verhalten erhoffst du dir stattdessen?

Ich könnte jetzt nicht von dir verlangen, dass du dich komplett normal verhältst. Es ist irgendwie klar, dass man Berührungsängste hat und nicht weiß, wie man sich verhalten soll, wenn man etwas nicht gewohnt ist. Man sollte nur einfach unvoreingenommen an die Sache rangehen. Wenn ein Mensch mit Behinderung dir die Hand entgegenstreckt, dann sicher nicht, weil er dir eine reinhauen, sondern weil er einfach nur Hallo sagen will. Mir fällt immer wieder auf, dass Leute das nicht akzeptieren können, weil sie sich ekeln, Angst haben oder irritiert sind, weil die Person einfach nur anders aussieht.

Wie setzt sich eure Einrichtung für Inklusion ein?

Wir schauen schon, dass wir viele Ausflüge in die Stadt machen. Das ist mit meiner jetzigen Wohngruppe leider nicht mehr so einfach, weil wir viele Rollstuhlfahrer*innen haben und unsere Busse zu klein sind, um alle unterzubringen. Wir haben aber auch viele Angebote in dem Dorf, in dem die Einrichtung ist. Zum Beispiel das Herbstfest, da kommen auch Menschen ohne Behinderung, die nichts mit unserer Einrichtung zu tun haben. 

Für die Leute in der Einrichtung ist es generell sehr schwierig, eine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt zu bekommen. Aber es gibt die Chance. Wir haben Wohngruppen, in denen die Leute einfach nur eine Lernbehinderung haben, also zum Beispiel ihren Namen, aber keine kompletten Sätze schreiben können. Die können dann aber immer noch in einem Café als Bedienung oder in einer Fabrik am Fließband arbeiten. Dafür setzen wir uns als Heilerziehungspfleger*innen ein und schauen mit psychiatrischen und medizinischen Gutachten, ob die Möglichkeit besteht.

Wie beeinflusst Corona deine Arbeit und das Leben deiner Wohngruppe?

Ganz oft versuchen die Bewohner*innen, mir die Maske runter zu ziehen, weil sie mein Gesicht nicht sehen können. Sie verstehen nicht, warum ihre Förderstätte oder ihre Arbeit gerade wieder geschlossen hat und warum sie jetzt nicht einfach mit uns im Bus zum Kaffeetrinken fahren können. Wie willst du einem Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung erklären, was Corona ist? Das ist ja für uns auch schwer zu verstehen und zu akzeptieren. Deshalb fällt es den Menschen so schwer nachzuvollziehen, warum das Herbstfest ausfällt, warum sie nicht in den Urlaub fahren oder warum sie ihre Angehörigen nicht sehen dürfen.

Gibt es Momente, in denen dir dein Beruf sehr schwerfällt?

Die gibt es tatsächlich noch, aber nicht mehr so oft wie am Anfang. In meiner Gruppe hat innerhalb von eineinhalb Jahren viermal die Gruppenleitung gewechselt. Wir haben einfach zu wenig Personal. Teilweise hatte ich zwölf Tage hintereinander Wechselschicht, ohne einen Tag Pause und war oft alleine mit der ganzen Gruppe. Die Bewohner ziehen auch immer wieder um und im Mai ist einer verstorben. Da gibt es natürlich Momente, in denen man sich fragt, warum man das eigentlich macht. Aber es wird einem so viel zurückgegeben. Das überwiegt einfach.

In welchen Momenten äußert sich das?

Die Menschen sind einfach so ehrlich und schätzen dich und deine Hilfe so sehr. Ein einfaches „Ich hab dich lieb“ oder ein „Guten Morgen“, wenn ein Bewohner aufsteht und dich in den Arm nimmt – also vor Corona natürlich. Oder einfach, wie man aus einer Mama-Perspektive sagen würde, in die glitzernden Augen der eigenen Kinder zu schauen.

Wie viel verdienst du?

Ich verdiene 3200 Euro brutto bei einer 35-Stunden-Woche.

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