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Warum wir zu unserem Neo-Spießertum stehen sollten

Foto: Rasulov / Adobe Stock

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Bergwandern im Allgäu, Mitgliedschaft und Ehrenamt im Deutschen Alpenverein, ab und zu ein Spieleabend mit den Kommilitonen bei gutem Wein. Rezepte tauschen wir auch gerne aus und manchmal werden sogar Socken gestrickt und Marmeladen eingekocht: So in etwa kann man sich meine Freizeit und die meiner Freunde vorstellen. Silvester 2019 verbrachten wir zusammen in einer Selbstversorgerhütte im Schwarzwald. Malerisch lag die Hütte zwischen hohen Tannen und sanften Hügelkuppen. Ein Bild, wie ich es aus Omas Treppenhaus kenne.

Bei diesem Anblick fragte ich mich zum ersten Mal: „Wie spießig bin ich eigentlich!?“ Als ich die Frage auch meinen Freunden stellte, während wir versammelt in der braun getäfelten Stube am Kachelofen saßen, fühlten sie sich ertappt. Spießig!? Auf keinen Fall. Diesen Vorwurf lässt sich wohl kaum ein junger Mensch widerstandslos gefallen. Spießig sind immer nur die anderen. Doch seit diesem Hüttenurlaub bezeichnen wir uns im Freundeskreis immer wieder spaßeshalber als „Neo-Spießer“ – und wenn wir ehrlich zu uns sind, fühlen wir uns auch so.

Der Begriff des Neo-Spießertums kursierte zuletzt vor ein paar Jahren in den Medien. Bereits damals hatte man insbesondere bei Studierenden eine neue Bürgerlichkeit entdeckt. Und bis heute hat er nicht an Aktualität verloren – denn er steht nicht für eine kurze Modeerscheinung, sondern für die Werte und Einstellung einer Generaton. Meiner Generation.

Unter „Spießern“ stellen sich die meisten engstirnige, kleinkarierte und konformistische Personen mit Bausparverträgen vor, die in Reihenhäusern mit gepflegten Vorgärten wohnen. Werte wie Sicherheit, Familie und Tradition gelten als spießig. Ist nicht genau das die Antithese zu all dem, wofür wir zu stehen glauben, wovon wir uns immer abgrenzen wollten? Machen wir nicht alles anders als unsere Eltern und Großeltern? Oder machen wir uns nur etwas vor und das „Neo“, das wir dem „Spießer“ voranstellen, gaukelt eine Pseudo-Emanzipation vor, die es gar nicht gibt?

Übernehmen wir mit Omas und Opas Vorlieben auch ihren Wertekanon?

Dass für meine Freunde und mich, genauso wie für viele andere junge Menschen, Dinge zu unserem Lifestyle gehören, die wir selbst mit Spießigkeit verbinden, lässt sich nicht verleugnen. In der Selbstbeobachtung kann das schizophren wirken. Selbstanspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander, wenn das eigene Kleingärtner- und Heimwerkertum der Forderung des gesellschaftlichen Wandels gegenüberstehen. Aber ist diese Selbstkritik wirklich berechtigt? Übernehmen wir mit Omas und Opas Vorlieben auch ihren Wertekanon?

Teilweise. Das hat zumindest die Shell-Jugendstudie von 2019 ergeben, für die zwölf- bis 25-Jährige befragt wurden. Die Ergebnisse zeigen eine klare Tendenz: Soziale Eingebundenheit gehört zu den wichtigsten Wertorientierungen. Den meisten sind Familie und soziale Beziehungen sogar wichtiger als Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit. Großen Wert legten die Befragten auch auf traditionelle Tugenden, wie den Respekt gegenüber Gesetz und Ordnung, der Orientierung an der Leistungsnorm und dem Streben nach Sicherheit insgesamt. Dieses Bild bestätigt die SINUS-Jugendstudie, die im Juli dieses Jahres veröffentlicht wurde. Untersucht wurden 14- bis 17-Jährige. Die Autoren stellten fest, dass die bürgerliche Normalbiographie das Leitmotiv vieler Teenager ist. In der Mitte der Gesellschaft ankommen. Das scheint den meisten Jugendlichen erstrebenswerter zu sein als ein hoher Lebensstandard oder die eigenen Wünsche und Bedürfnisse durchzusetzen.

Das Bewusstsein für Probleme wie den Klimawandel steigert das Bedürfnis nach Sicherheit

Viele junge Menschen suchen also nach Sicherheit und orientieren sich tatsächlich an alten Werten. Sozialwissenschaftler sprechen auch von einem „Regrounding“ der Jugend. Oft wird das auf eine stetig unsicherer werdende und krisenbelastete Welt zurückgeführt. Ähnliche Tendenzen kann ich auch in meinem Umfeld und an mir selbst beobachten. Das ausgeprägte Bewusstsein für Probleme wie den Klimawandel und die Polarisierung der Gesellschaft steigert das Bedürfnis nach Sicherheit. 

Bleibt die Frage, ob wir der althergebrachten Spießigkeit tatsächlich zumindest einen neuen Dreh geben. Ich finde: Das tun wir sehr wohl.

Und damit kommen wir zur anderen Seite der Medaille der Spießigkeit, auf der groß „Neo“ geschrieben steht. Die Forscher der Shell-Studie haben herausgefunden, dass vier von fünf Befragten ein hedonistisches Streben aufweisen, das Leben also in vollen Zügen genießen wollen. Dabei betonen die meisten weder den Beruf noch die Freizeit übermäßig. Sicherheit und Genuss schließen sich für die junge Generation also nicht gegenseitig aus, sondern scheinen sich eher gegenseitig zu bedingen. Gut in dieses Bild passt, dass wir großen Wert auf eine insgesamt bewusste Lebensgestaltung legen. Wir verhalten uns deutlich achtsamer gegenüber der Umwelt, dem Klima und letztlich uns selbst, als es noch unsere Eltern und Großeltern taten. Das läuft auf einen Kompromiss hinaus.

Spießige Elemente in der Lebensgestaltung sind keine reine Modeerscheinung

Stricksocken, Spieleabende und selbstgemachte Marmelade passen also doch mit der Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung und Wandel  zusammen. Ich kann Teva-Sandalen tragen und gleichzeitig post-materialistische Werte vertreten. So kommt auch die Jugendstudie zu dem Schluss, dass für die meisten jungen Menschen eine idealistische, sinnstiftende Werteorientierung an Bedeutung gewonnen hat. Mit engstirniger Spießigkeit hat das wenig zu tun. Auch nichts mit Kleinkariertheit. 

Es ist eher so, dass wir alte Formen mit neuen Inhalten füllen. Wir lehnen das Alte nicht kategorisch ab, sondern geben ihm einen neuen Anstrich. In dieser Hinsicht bedeutet konservativ, dass wir bewahren, was wir nach kritischer Überprüfung für gut befunden haben. Die Übernahme spießig konnotierter Aspekte in unsere Lebensgestaltung hat also nichts mit Mode oder einer kurzlebigen Retro-Welle zu tun. Es ist vielmehr so, dass sich damit theoretische, idealistische Überlegungen in die Praxis übersetzen lassen. Wer Socken stopft, muss keine neuen kaufen. Wer Lebensmittel einkocht, schmeißt kein Essen weg. Und wer in braun getäfelten Selbstversorgerhütten Urlaub macht, tut das auch oft, um bewusst aufs Fliegen zu verzichten. Deshalb haben meine Freunde und ich den Titel „Neo-Spießer“ verdient. Wir sollten unseren Widerstand dagegen aufgeben und ihn mit Stolz tragen.

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