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Warum Millennials den Roman „Ein wirklich erstaunliches Ding“ lesen sollten

Foto: Ashe Walker/MarsupialPudding LLC

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Die Welt spielt verrückt. Drake schlägt die Chart-Rekorde der Beatles, eine semi-intelligent, dafür aber maximal-operiert erscheinende Familie dominiert die Boulevardpresse, weil eine ihrer Töchter mal Paris Hilton kannte, und ein Instagram-Account mit Bildern von animierten

Eiern werden von Analysten auf um die 10 Millionen Dollar geschätzt.

All diese Phänomene, die vor ein paar Jahrzehnten undenkbar gewesen wären,finden ihren gemeinsamen Nenner in den sozialen Medien. Und der Youtube-Star und Autor Hank Green hat sich jetzt die Sisyphos-Aufgabe gestellt, dieses erstaunliche Ding namens Internet, Digitalisierung und was auch immer dazugehört, fiktional aufzuarbeiten.

Der Autor ist heute 38 Jahre alt und der jüngere Bruder des Autors John Green. Mit ihrem Kanal Vlogbrothers waren die beiden frühe Helden des damals noch vergleichsweise unschuldigen YouTube-Zeitalters – eben vor der Zeit mit Videos mit Milliarden Views und PewDiePie-Antisemitismus-Skandalen. Hank Greens Buch „Ein wirklich erstaunliches Ding“ ist letztes Jahr zunächst in Amerika erschienen und auf den Fiction-Charts direkt auf Platz Eins eingestiegen – und das zurecht. Denn in dem Buch holt er zu einem intelligenten Rundumschlag aus, der jedem Millennial zu denken geben sollte. In Deutschland erscheint das Buch am 28. Februar.

cover hank green

Bild: dtv-verlag

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 23-jährige New Yorker Design-Studentin April May, die durch ein Youtube-Video buchstäblich über Nacht berühmt wird. Gegenstand des Videos ist eine riesige, mächtig erscheinende Skulptur, die in der 23. Straße New Yorks aufgetaucht ist .

Von der Anmut überwältigt, dreht sie zusammen mit ihrem engen Freund Andy ein kurzes Video von dem, was sie damals noch als Kunstwerk deklariert und Carl nennt. Am nächsten Morgen ist ihr Video etliche Male geklickt worden, Carl ist ein globales Phänomen. In 63 anderen Metropolen tauchen identische Skulpturen auf. Und weil April und Andy quasi die Ersten waren, die sich zu dem „Kunstwerk“ geäußert haben, mausert sich April schnell zur Carl-Expertin und folgerichtig auch zum Social-Media-Starlet. Durch ein ansprechendes Äußeres, einer PR-Agentur im Rücken und Abermillionen Menschen, die nach Gossip gieren, dominieren Twitter und Talkshows von nun an ihr Leben. Als sich herauskristallisiert, dass es sich bei den Carls um etwas bisher Unerklärliches handelt, dreht sich das digitale Karussell für April nur noch viel schneller.

Green kritisiert die schleichende Entmenschlichung, die Youtube-Stars und dergleichen zweifellos ereilt

Hank Green hat viele gute Ideen und ist ob seiner Vergangenheit ein glaubwürdiger Richter über die Schattenseiten von Facebook, Twitter, Youtube und Co. Wer sich ein wenig mit seinem Werdegang befasst, kommt nicht darum herum, die ein oder andere Parallele zwischen ihm und der Entwicklung von April May zu ziehen. Nicht charakterlich – April avanciert im Laufe des Buches zu einer eher hassenswerten Figur – aber von der Intensität her, mit der die Berühmtheit im Internet Auswirkungen auf das Leben haben kann.

Am Beispiel April erfährt der Leser, welche Gedanken sich Green zu diesem Prozess gemacht hat. Schon früh im Buch wird man mit Sätzen wie „Man kann nur bis zu einem gewissen Grad so tun, als wäre man jemand anderes, ohne zu diesem anderen zu werden“ konfrontiert. Green kritisiert die schleichende Entmenschlichung, die Youtube-Stars und dergleichen zweifellos ereilt. Stück für Stück baut man sich seine Marke auf, verkauft und vermarktet diese durch Videos, Posts und Storys und nähert sich so der Kunstfigur an, die man erschaffen hat: „Allerdings bedachte ich nicht, dass ich durch die Erschaffung der Marke April May zugleich ein neues Selbst schuf“, schreibt Green in seinem Buch.

Relativ bald, nachdem April mit ihrem Video zum Star wird, merkt sie auch, dass es schnell nicht mehr darum geht, wofür sie berühmt ist, sondern vielmehr einfach nur darum, DASS sie berühmt ist. In der Öffentlichkeit gibt sich April selbstsicher, frech und im Reinen mit sich,

privat bekommt der Leser das Bild einer jungen, zerrissenen Frau die von Verunsicherung, Selbstzweifel und Bindungsängsten geplagt ist. Ein modernes Drama, das jeder Millennial so ein bisschen kennt. Wenn auch nur im Kleinformat. Wer hat nicht schon mal einen lachenden Emoji verschickt, während es ihm eigentlich beschissen ging?

Dass April im Verlauf des Buches zu einer eher unsympathischen Person wird, ist vom Autor offenkundig kalkuliert und steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Machtposition, die sie durch ihre vielen Follower bezieht: „Anfangs fiel es mir schwer, dieses starke Gefühl einzuordnen, das mich plötzlich durchströmte, aber dann begriff ich: Es ging um Macht.“

Mehr Follower, mehr Macht, mehr Geld, mehr falsche Freunde, mehr alles. So wird aus einer jungen Design-Studentin ganz schnell jemand, der mehr oder weniger freiwillig in das große Medien-Durcheinander reingeworfen wurde und jetzt orientierungslos versucht, sich selbst nicht zu verlieren: „Man hört immer, Macht würde den Charakter verderben … aber niemand sagt einem, wie schnell das passiert.“

Oft wirkt es so, als habe Green vorher ganz genau gewusst, was er sagen will

Green nimmt sich aber nicht nur das Schicksal des Einzelnen vor, sondern hält der „Branche“, wenn man es so nennen mag, einen Spiegel vor, in dem ihre hässliche Fratze verschlagen grinst. Durch Eilmeldungen im Sekundentakt, Schlagzeilen, die keine sein sollten und Talkrunden mit Pseudo-Experten haben wir in den letzten Jahren eine Aufmerksamkeitsgesellschaft geschaffen, die es zu befriedigen gilt. Je mehr sie frisst, desto mehr Hunger hat sie auch. So werden an einem Punkt im Buch Stimmen laut, die den Carls einen außerirdischen Ursprung unterstellen. Der darauffolgende Reaktion offenbart die mediale Willkür: Jeder Sender, jeder Kanal, braucht dazu eine Talkshow, Sondersendung, investigative Berichterstattung: „Ich sprach mit Generälen, Physikern, Neurologen, Schauspielern, die in Filmen schon mal Außerirdische gespielt haben [...].“

Oft wirkt es so, als habe Green vorher ganz genau gewusst, was er sagen will, um danach frei nach dem Motto „was nicht passt, wird passend gemacht“ eine Geschichte um die Aussage herumzuspinnen. Das wirkt manchmal doch ein wenig konstruiert. Zu Gunsten von Metaphern wird die Geschichte manchmal abstruser, als sie sein müsste.

Trotzdem hat Green ein auf der Deutungsebene wunderbar funktionierendes Buch geschrieben, das als Parabel auf die like-getriebene, digitalisierte Aufmerksamkeitsgesellschaft gelesen werden muss. Die Geschichte drumherum ist zunächst vielleicht gewöhnungsbedürftig, entwickelt aber schnell eine spannende Dynamik und lässt auch Menschen, die sonst wenig Fiction lesen mit Spannung die nächsten Seiten erwarten. Gerade jüngere Leser können, wenn sie wollen, viele interessante Denkanstöße mitnehmen.

Denn die „Millenial“-Generation läuft durch die meist schon früh stattfindende Auseinandersetzung mit digitalen Medien Gefahr, die eigentlich nötige Distanz der Sache gegenüber nicht zu wahren. Instagram wird zum Fenster zur Welt, Twitter zum Nachrichtendienst des Vertrauens, Influencer zu Vorbildern. Das Leben spielt sich hauptsächlich digital ab und analoge Parameter zur Vermessung der eigenen Welt geraten in Vergessenheit. Da kann Greens Buch die willkommene Erinnerung sein, die sanft mit dem Zaunpfahl winkt und uns zeigt, dass wir gerade einmal an der Oberfläche von dem kratzen, was das komplexe Phänomen Internet für uns noch bereithalten wird.

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