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„Ich wünsche mir, dass Männer mehr weibliche und queere Autor*innen lesen“

Foto: Marlen Mueller

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Nach dem Studium in Politikwissenschaften leitete Emilia von Senger, 32, eine Lernwerkstatt in Neukölln. Dann wurde sie schwer krank. In der Zeit Zuhause entdeckte sie die Liebe zu feministischen Büchern. Im Internet. Im Herbst eröffnet sie nun einen feministischen Buchladen in Berlin-Neukölln. Was es dort zu lesen geben soll und was gerade nicht, hat sie uns im Interview erzählt.

jetzt: Was liest du gerade?

Emilia: Das darf ich gar nicht laut sagen. Ich habe erst gestern „Untenrum frei“ von Margarete Stokowski fertiggelesen. Ein Buch, das ich schon tausend Mal in der Buchhandlung, in der ich davor gearbeitet habe, verkauft, aber selbst nie gelesen hatte.

In deiner eigenen Buchhandlung soll Literatur von Frauen und queeren Autor*innen die Norm sein. Wie wählst du aus, was da im Regal stehen wird? 

Das Privileg der Buchhändler*in ist natürlich, Bücher auswählen zu können, die einem selber gefallen. Ich mag Bücher, die meinen Horizont erweitern, bei denen ich einen neuen Blick auf die Welt gewinne, die mich herausfordern. Außerdem finde ich Diversität in all ihren Formen super wichtig. Bei Kinderbüchern ist mir wichtig, dass stereotype Geschlechterbilder nicht reproduziert werden und Mädchen in Hauptrollen auftreten. Da würde ich auch männliche Autoren ins Sortiment nehmen, die coole Geschichten jenseits der Norm erzählen.

„Ich wünschte, mir hätte jemand mit 16 Jane Austen in die Hand gedrückt“

Der feministische Buchladen ist als Konzept ja nicht neu. Ich würde sogar sagen: War mal ziemlich angesagt und wirkte dann eher out. Warum erlebt das gerade jetzt eine Renaissance?

In den 70er und 80er Jahren gab es in vielen deutschen Städten sogenannte Frauenbuchhandlungen, die waren zentrale Anlaufpunkte der Frauenbewegung und oft Schutzräume für Frauen, das heißt Männer waren nicht erwünscht. Diese Buchhandlungen sind aber fast überall ausgestorben, weil Feminismus „out“ war oder die Besitzerinnen zu alt geworden sind. 40 Jahre später eröffne ich eine Frauenbuchhandlung 2.0. Männer sind bei mir unbedingt erwünscht und queere Autor*innen natürlich Teil des Sortiments. Deswegen sage ich auch Autorinnenbuchhandlung statt Frauenbuchhandlung. Feminismus hat sich verändert, ist queerer und intersektionaler geworden. Viele Anliegen der ursprünglichen Frauenbuchhandlungen sind aber leider immer noch aktuell.

Wann hast du angefangen, bewusst nur noch weibliche und queere Autor*innen zu lesen? 

Ich habe erst mit Mitte 20 angefangen, mich überhaupt als Feministin zu bezeichnen. Die weiblichen Klassiker habe ich auch erst in diesem Alter entdeckt. Ich hatte lange niemanden, der oder die mich an weibliche Autorinnen herangeführt hat. In der Schule lasen wir Hermann Hesse und Max Frisch. Ich wünschte, mir hätte jemand mit 16 Jane Austen in die Hand gedrückt. Ich war im Deutsch Leistungskurs, da habe ich keine weiblichen Autorinnen kennengelernt. Heute lese ich deshalb eine Mischung aus Neuerscheinungen und Klassikern, die ich aufholen möchte. Wenn ich Autorinnen wieder sichtbar machen will, muss ja zunächst ich die vergessenen Autorinnen kennen. 

„Ich wünsche mir, dass gerade Männer mehr weibliche und queere Autor*innen lesen“

Woran liegt es, dass weibliche Schriftstellerinnen oft unbekannter sind als ihre männlichen Kollegen?

Autorinnen werden nicht nur weniger in der Gegenwart gelesen, sie werden auch schneller vergessen. Marie NDiaye hat zum Beispiel in den 2000er Jahren den berühmten Prix Goncourt gewonnen, trotzdem kannte ich sie nicht. Viele Bücher von Frauen werden auch nicht so oft wieder aufgelegt oder in Gesamtausgaben herausgegeben wie die von Männern.  

Dürfen auch Männer in deinen Laden kommen?

Unbedingt. Ich wünsche mir, dass gerade Männer mehr weibliche und queere Autor*innen lesen. Und junge Menschen, die gerade aus einem Schulsystem kommen, in dem sie nur alte weiße Männer vorgesetzt bekommen haben. Und Eltern, die coole Kinderbücher suchen. Eigentlich soll sich jede*r dort wohlfühlen.

Was würdest du einem Mann in deinem feministischen Buchladen in die Hand drücken?

Liv Strömquist, Der Ursprung der Welt. Aber auch einfach gute Romane von Autorinnen. 

Wie kamst du zu der Idee, einen eigenen Buchladen zu gründen? 

Ich war vor zwei Jahren ziemlich krank und insgesamt fünf Monate zuhause. Ich musste viel Zeit im Bett verbringen. In dieser Zeit habe ich sehr viel gelesen und auf Instagram angefangen, über Bücher zu schreiben. Als es mir besser ging, habe in einem Buchladen angefangen. Ich mochte meine Arbeit sehr, aber hatte schnell den Wunsch, mehr selbst zu gestalten. 

Wie kannst du das finanziell realisieren? 

Ich habe Geld geerbt. Das ist eine sehr privilegierte Situation. Die möchte ich nutzen, um einen Ort zu schaffen, der anders aussieht, als das, was wir kennen. Es ist mir wichtig, das transparent zu machen, weil ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist. 

„Den Menschen tut es gut, sich zurückzuziehen“

Auf Instagram folgen mehr als 5000 Menschen deinen Buchempfehlungen. Welche Rolle spielen soziale Medien in deinem Alltag als Buchhändlerin?

Instagram hat mir viele Türen geöffnet. Übers Internet habe ich Buchhändler*innen und die Literaturwelt kenngelernt. Schon jetzt hat meine Buchladen-Idee online sehr viel Zuspruch bekommen. Ich teile dort meine Fortschritte beim Gründen und frage meine Follower*innen um Rat. Außerdem entscheide ich  hauptsächlich über die Inspiration auf Instagram, was ich als nächstes lese. Das Lesen wird dadurch von einer einsamen Tätigkeit zu einer gemeinschaftlichen. Gerade in Zeiten der Hyperinformation erlebt das Lesen eine Renaissance. Den Menschen tut es gut, sich zurückzuziehen.

Die digitale Welt könnte auch eine Gefahr für einen klassischen Buchladen sein. 

Ich sehe es eher als Chance. Beides passt zusammen. Instagram unterwandert die klassischen Literaturstrukturen. Da gibt es viel mehr weibliche oder queere Autorinnen als in den Feuilletons. Ein Beispiel: Letztens hat eine Zeitung (Anm. d. Red.: Die Süddeutsche Zeitung) eine Sammlung von Büchern herausgegeben, die man gelesen haben sollte. Die Autoren waren nur Männer. Als Reaktion darauf wurden auf Instagram in kürzester Zeit riesige Sammlungen von Literatur von Frauen unter dem Hashtag #Autorinnenschuber zusammengestellt und geteilt.

„Ein großer Teil der Unterdrückung von Frauen war, dass sie nicht im öffentlichen Teil der Gesellschaft sprechen durften“

Dein Laden entsteht auf dem Kottbusser Damm in Berlin. Das ist eine sehr gemischte Nachbarschaft, die gerade viel gegen Gentrifizierung kämpft. Wie passt dein Laden da rein?

Ich will die Leute im Kiez aktiv mit einbeziehen. Bevor die Regale reinkommen, werden die Nachbar*innen eingeladen. Ich will von ihnen wissen, was sie sich an Veranstaltungen wünschen. Buchhandlungen funktionieren besser, wenn sie sich auch in ihrer Auswahl auf das Umfeld einstellen. Es wird auch ein Café geben. Man kann dort einfach verweilen und in Bücher reinlesen, ohne sie kaufen zu müssen. Außerdem soll es Lesekreise, Diskussionen und Workshops geben. Eine Autorin hat zum Beispiel angeboten, einen Schreibworkshop für weibliche Charaktere zu geben. Oft schreiben Frauen selbst eher über Männer, weil sie mit dem Kanon gelernt haben, dass wichtige Literatur von Männern handelt.

Warum heißt dein Laden „She said“?

Das kommt von dem Buch „Sagte sie. 17 Geschichten über Sex und Macht“. Es entstand nach der metoo-Bewegung und im Vorwort schreibt die Herausgeberin Lina Muzur, dass bestimmte Situationen von Männern und Frauen oft unterschiedlich wahrgenommen werden. „He said, she said“, sagt man auf Englisch. In dem Buch hieß es: „Es könnte durchaus sein, dass wir schon zu lange und zu oft seiner Version der Geschichte zugehört und Glauben geschenkt haben“. Das ist mir im Kopf geblieben. Ein großer Teil der Unterdrückung von Frauen war, dass sie nicht im öffentlichen Teil der Gesellschaft sprechen durften. Auch das Schreiben ist eine Form von Öffentlichkeit, die immer noch viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Mit meinem Laden soll sich daran etwas ändern. 

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