Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Würde meine demente Großmutter mich rassistisch beleidigen?

Illustration: FDE

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Im Winter lag meine Großmutter im Sterben. Am Morgen des 24. Dezember war ich das letzte Mal zu ihr unterwegs. Ich wusste, dass dies mein letzter Besuch sein würde, denn in den Wochen zuvor hatte sich ihr Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert. Also reiste ich etwas ängstlich von Zürich nach Basel, wo sich ihr Pflegeheim befand. Meine Gedanken kreisten ständig um Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit Großmutter, eine hilflose Traurigkeit befiel mich. Aber auch noch etwas anderes: die Angst, dass Großmutter reden und dabei etwas Falsches sagen könnte, etwas Verletzendes, etwas, was mein Andenken an sie dauerhaft beschädigen würde.

Ich sollte an dieser Stelle zwei Dinge erwähnen. Zum einen: Meine Großmutter war demenzkrank. Dass sie verwirrende oder irritierende Dinge von sich gab, kam öfter vor. Als mein Bruder und meine Mutter sie ein paar Monate zuvor einmal zusammen besucht hatten, hatte sie meine Mutter gefragt, wer denn der charmante junge Herr an ihrer Seite sei und ob Mutter gar plane, ein zweites Mal zu heiraten. Es war auch schon einige Male vorgekommen, dass sie niemanden mehr erkannte. Der zweite Punkt, den ich vielleicht klarstellen sollte, ist: Meine Großmutter war eigentlich meine Adoptiv-Großmutter. Ich bin der Sohn einer weißen Amerikanerin und eines Afroamerikaners und wurde als Kind von einem Schweizer Paar adoptiert. Meine plötzliche Angst hatte also mit dieser Besonderheit in meiner Biografie zu tun: Ich hatte Angst davor, dass meine weiße Großmutter mich nicht erkennen und etwas Rassistisches über mich sagen würde.

Dabei hat meine Großmutter mir eigentlich nie einen Grund für diese Befürchtung gegeben. Als Kind hatte sie oft auf mich aufgepasst, wir hatten immer eine herzliche, liebevolle Beziehung zueinander gehabt. Sie war eine kleine, zierliche Person, belesen, modebewusst, stolz auf ihre schicke Wohnung. Zwar durchaus undiplomatisch in der Art, wie sie mit oder über Menschen sprach, aber immer fair. Als Teenager hatte ich zwar öfter das Gefühl, dass sie zu sehr auf Konformität fokussiert war, darauf was man tut und was man nicht tut und nicht selten war ihre Vorstellung davon meiner Meinung nach um zehn oder zwanzig oder auch dreissig Jahre veraltet. Aber das änderte nichts. Ich hatte sie immer sehr geliebt und sie mich, glaube ich, auch.

„Was denken sie über mich, was sie mir nicht ins Gesicht sagen?“

 

„Aber wer weiß?“, dachte ich, während ich auf die winterliche Landschaft blickte, die vor dem Fenster des Zugs vorbeizog. Man sieht nicht in die Köpfe der Menschen hinein. Auch nicht, wenn man sie zu kennen glaubt. Ich habe schon Tanten aus der eigenen Familie erlebt, die deutlich jünger als meine Großmutter sind und sich aus dem Nichts darüber ausgelassen haben, dass „die Tamilen“  in der Wohnung über ihrer nun mal stinken würden und von Natur aus lauter und fauler als „wir Europäer“ seien. Wobei sie, wie ich vermute, nicht einmal mit Sicherheit wusste, ob die Familie in der Wohnung über ihrer tatsächlich tamilisch war. Oder nette langjährige Arbeitskolleginnen, die in meiner Anwesenheit über die neue Putzhilfe im Betrieb Dinge gesagt haben wie: „Ich habe ja nichts gegen Schwarze, aber ich hoffe schon, dass es dann auch sauber wird, wenn die putzt.“

Diese Menschen haben sich mir gegenüber nie herablassend oder beleidigend verhalten. Und doch komme ich nicht umhin, mich im Umgang mit ihnen immer wieder mal zu fragen: „Was denken sie über mich, was sie mir nicht ins Gesicht sagen?“ Können sie mich als gleichwertig akzeptieren? Als Chef? Können sie mich von Gleich zu Gleich lieben?   

Was bei Großmutter hinzukam: Sie war in einer völlig anderen Zeit aufgewachsen. Während ihrer Kindheit hatten rassistische Mörder all unsere Nachbarländer regiert. Ein bisschen rassistisch zu sein, gehörte damals auch in der Schweiz durchaus zum guten Ton. Und das nicht nur während des Zweiten Weltkriegs. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie in einer Gesellschaft gelebt, in der es nicht nur salonfähig, sondern normal gewesen war, die Qualität eines Menschen als Erstes an seiner Hautfarbe festzumachen, all seine Eigenschaften mit seiner Hautfarbe zu begründen. Wer konnte da schon sagen, ob Großmutter nicht die gleichen Vorbehalte gegenüber Menschen mit meinem Aussehen hatte, die rund um sie herum fast immer normal gewesen waren? Hatte sie mir diese Vorbehalte einfach verschwiegen, weil sie mich kannte; hatte sie „eine Ausnahme“ für mich gemacht? Und was würde passieren, wenn sie mich nun nicht mehr kannte? 

Waren rassistische Gedanken vielleicht stärker bei meiner Großmutter verankert als die Erinnerungen, die sie erst spät mit mir machte?

Die Idee, dass Menschen, je nachdem, wie sie aussehen, verschiedene Eigenschaften hätten und unterschiedliche Behandlungen verdienen würden, die Überzeugung, es mit mir mit einem Menschen zweiter Klasse zu tun zu haben: War es nicht sogar wahrscheinlich, dass sie sie mit sich herumtrug? Hatte sich das nicht schon in ihrem Kopf festgesetzt, als sie noch Kind war? War das vielleicht stärker in ihr verankert als die Erinnerungen, die sie erst spät mit mir machte? Und war nicht gerade in den vergangenen Jahren klar geworden, wie viel Zulauf jene Politiker noch immer erhalten, die quasi mit dem Versprechen antreten, diesen Überzeugungen wieder zu ihrer alten Dominanz zu verhelfen?

Als ich im Pflegeheim ankam, war Großmutters Zustand noch schlechter, als ich befürchtet hatte. Die Pflegerin, die sich zusammen mit meiner Mutter gerade in dem Zimmer aufhielt, sagte, dass Großmutter seit Tagen kaum noch ansprechbar gewesen sei. Sie ließ durchblicken, dass sie bald sterben würde.

Fast während meines ganzen Besuchs lag Großmutter auf dem Bett und schlief. Ihr Gesicht war eingefallen, wächsern; es glich eher einer Totenmaske als dem einer Lebenden. In den Momenten, in denen sie aufwachte, war sie desorientiert. Es war klar, dass sie nicht wusste, wo (oder wer, oder wann) sie war. Sie erkannte weder die Pflegerin, noch meine Mutter, noch mich. Zweimal machte sie Anstalten, aufzustehen und nachdem sie es mit unserer Hilfe getan hatte, suchte sie auf meinen Ellbogen gestützt etwas, das sich scheinbar in ihrem Bücherregal befand, aber bald wusste sie offensichtlich nicht mehr, was es gewesen war oder konnte es uns nicht sagen. Sie, die einmal so wortgewandt gewesen war, konnte sich nur noch in zusammenhangslos und kaum verständlichen gemurmelten Wortfetzen mitteilen.

Ich spürte in ihrem Blick etwas: eine wache, tiefe, umarmende, bedingungslose Liebe

Als sie das dritte Mal aufwachte, hatte ich schon Anstalten gemacht, wieder zu gehen. Sie setzte sich auf und blickte mit dem gleich vakanten Blick um sich, wie zuvor schon. Auf das hydraulisch verstellbare Krankenhausbett, das ihr früher ein Graus gewesen wäre und auf dem sie jetzt lag, das Zimmer, das noch immer nicht ihres war, obwohl es mit allem vollgestellt war, was aus ihrer Wohnung übriggeblieben war. Auf meine Mutter. Alles mit dem gleichen stumpfen Blick. Dann fiel ihr Blick auf mich.

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als versuche sie, sich an etwas zu erinnern. Sie hob den Zeigefinger, zeigte auf mich, murmelte etwas, das wie mein Name klang und aus ihren Augen las ich, dass sie mich erkannte. Denn ich spürte in ihrem Blick etwas: eine wache, tiefe, umarmende, bedingungslose Liebe. Sie hielt den Augenkontakt lange, vielleicht im Bewusstsein, dass sie nichts mehr sagen konnte, dass das ihr einziger Weg war, zu kommunizieren. Dann lehnte sie sich zurück, lächelte ein verschmitztes Lächeln und schlief wieder ein. Als sie eine halbe Stunde später immer noch schlief, nahm ich ein letztes Mal von ihr Abschied und ging.

Auf der Heimfahrt im Zug versuchte ich, die Trauer beiseite zu schieben, obwohl sie mich würgte, zumindest, bis ich an einem privateren Ort war. Was sich aber nicht beiseiteschieben ließ, war die Erkenntnis, dass ich Großmutter Unrecht getan hatte. Sie hatte, im Gegensatz zu mir, weit darübergestanden, sich mit Äusserlichkeiten aufzuhalten.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien zuerst bei saiten.ch und wird hier in leicht veränderter Version noch einmal veröffentlicht.

  • teilen
  • schließen