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Ich bin mit einem 50er-Jahre-Weltbild aufgewachsen

Das Familienkonzept „Ehe, Kinder, Hausbau“ klappt im 21. Jahrhundert nicht immer für die Ewigkeit, egal, ob man es will. Und was kommt danach?
Bilder: pixabay / Collage: Daniela Rudolf

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Meine Eltern haben in den 80er Jahren geheiratet, da waren sie beide Mitte 20. Kein gesellschaftlicher Aufreger, aber doch jung. Meine Mutter hatte zwar eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, aber sie wusste von klein auf, dass „den-Richtigen-Mann-finden“ und Kinder kriegen ihre wichtigsten Prioritäten sein werden. Und zwar schlicht und ergreifend deshalb, weil sie nicht der Gedanke an eine Karriere und Erfolg mit Glück erfüllte, sondern der einer großen, glücklichen Familie. Das empfand sie damals und bis heute als ihre Lebensaufgabe. Dabei hätte sie genug Gründe, es inzwischen anders zu sehen.

Mein Vater wusste von ihrem Traum – aber ob er es sich anders vorstellte, das weiß ich nicht. Beide sind mit einem „traditionellen“ Familienbild groß geworden, also denke ich nicht, dass er große Einwände dagegen hatte, geschweige denn diese artikulierte. Mein Vater war also immer dafür verantwortlich, die Familie zu ernähren. In den ersten Jahren der Ehe hatte meine Mutter auch einen Job, den gab sie aber auf, als wir Kinder kamen.

Meine Eltern ergänzten sich immer sehr gut. Sie die Kinder, er das Geld. Die Aufteilung funktionierte für sie jahrelang perfekt. Dafür war sie ihm aber finanziell ausgeliefert. Zwar hatten beide Vollzeitjobs – ja, 24 Stunden am Tag Kinder zu betreuen IST ein Vollzeitjob – aber der, der das Geld ranschafft, gibt nun mal den Ton an.

Und doch war ich immer davon ausgegangen, dass meine Mutter alles richtig gemacht hatte. Unsere Familie war für mich und meine vier Geschwister das Paradebeispiel für eine intakte Familie, in einer Welt, in der die Hälfte unserer Klassenkameraden geschiedene Eltern hatte. So wollten wir es später auch mal machen. Wir Mädchen hofften, das Glück zu haben, nur für die Kinder da sein zu können. Und wir hofften auf den Luxus, dass wir Ehemänner bekommen würden, die dieses Modell mitleben und genug für alle verdienen würden.

Die „Familienkarriere“ stand immer über meinem Drang, auf eigenen Füßen zu stehen

Ich schreibe hier bewusst Luxus, weil mir durchaus klar war, dass es ein Privileg ist, nicht arbeiten zu müssen. Aber ich dachte auch, dass es nun mal das Schönste auf der Welt für eine Frau sei, wenn sie in ihren Kindern eine Lebensaufgabe hat, nicht in einem Beruf.

Zwar hatte ich den klaren Wunsch zu studieren und klar, ein paar Jahre würde ich auch arbeiten – aber die „Familienkarriere“ stand immer über meinem Drang, auf eigenen Füßen zu stehen. Dass diese Vorstellung gefährlich war, merkte ich mit 19.

Die Stimmung zu Hause schlug um. Mein Vater, für den meine Mutter immer seine große Liebe gewesen war, wurde zu ihr ruppig, kam abends plötzlich spät nach Hause, wollte Zeit für sich haben. Was sich anhört wie ein schlechter Hollywoodfilm, in dem die Protagonistin entdeckt, dass ihr Mann fremdgeht, war plötzlich unsere Realität. Mein Vater hatte eine Frau kennengelernt, für die er überlegte, meine Mutter zu verlassen. Wobei das so nicht ganz richtig ist: seine Idealvorstellung war, beides zu haben. Die „intakte“ Familie und die Freundin.

Das alles fanden wir aber nur heraus, weil ich ihn konfrontierte, nachdem ich meine Mutter nach einem Streit weinend auf dem Sofa vorfand. Er behauptete, er hätte inzwischen andere Vorstellungen vom Leben. Das würde wohl einfach nicht mehr zusammen passen. Typisch Midlife-Crisis-Klischee eben. Anstatt den wahren Grund zu nennen, gab er ihr die Schuld. Das erfüllt mich heute noch mit blankem Zorn. Was folgte, war ein einziger Albtraum. Die Panik, das Elternhaus würde zerbrechen, paarte sich mit Trauer und einer Verlustangst, die ich bis heute nicht ganz abschütteln kann.

Bei uns passiert so was nicht, wir sind die Ausnahme, das hatten meine Eltern uns immer wieder gesagt. Und eine andere Option war auch nie nur in meinen Gedanken gewesen.

Falsch. Man ist nie die Ausnahme. Scheiße passiert in jeder Familie und man ist besser dran, wenn man das von Anfang an weiß. Das Familienbild, mit dem ich 20 Jahre lang aufgewachsen war, hat mir zwar eine Bullerbü-Kindheit ermöglicht, aber es hat mich und meine Geschwister vollkommen naiv gegenüber den Grausamkeiten des echten Lebens gemacht. Unser Modell hat uns Kinder nicht auf die Realität vorbereitet. Es hat uns vorbereitet auf die Welt von vor 70 Jahren. Nicht zu vergessen natürlich, dass Menschen auch damals schon Affären hatten, aber die logische Konsequenz daraus war zur damaligen Zeit selten Scheidung, sondern eher, dass die Frauen das auszuhalten hatten.

Sie hatte kein eigenes Einkommen, war davon abhängig, ob mein Vater ihr Konto auffüllte

Das Szenario einer Trennung, geschweige denn Scheidung, war in unserer Familie nie angedacht worden. Weil meine Eltern keinen Ehevertrag haben, würde meine Mutter zwar die Hälfte des Ersparten bekommen, aber wie man mit Geld umgeht, das wusste sie damals nicht. Sie hatte kein eigenes Einkommen, war davon abhängig, ob mein Vater ihr Konto auffüllte. Und nach zwanzig Jahren ohne geregelten Berufsalltag hatte sie auch keine Chance, schnell einen Job zu finden, der sie unabhängig machen könnte. Das heißt konkret: Neben dem Verrat, den sie verkraften musste, stand sie auch noch vor der Frage, wie sie alleine dauerhaft über die Runden käme.

Meine Mutter hatte in einer Märchenwelt gelebt, in der Betrug und Verlassenwerden nun mal nicht vorkamen. Diese verklärte Sicht auf die Welt hatte sie auch an uns Kinder weitergegeben. Und das machte den Abgrund vor unseren Füßen für uns alle so wahnsinnig tief.

Meine Ansprüche an mein eigenes Leben drehten sich durch diese traumatische Erfahrung von einem Tag auf den anderen um 180 Grad. Vorher dachte ich: „Ich kann werden, was ich will und muss nicht darauf achten, ob man damit wirklich Geld verdienen kann, denn ich werde ja hoffentlich jemanden heiraten, der für uns beide sorgen kann.“ Jetzt arbeite ich hart daran, meinen eigenen Weg zu gehen, der es mir ermöglicht, später mal von einem Partner unabhängig zu sein. Man weiß nie, was passiert.

Ich möchte niemals mein ganzes Leben in die Hände einer anderen Person geben

Unsere Familie hat diese Zeit unendliche mühevolle Diskussionen, viele Tränen und verzweifelte Wut gekostet. Am Ende hat meine Mutter meinen Vater sogar rausgeschmissen. Dadurch sah er plötzlich doch wieder, was er an ihr hatte. Ich bin davon überzeugt, dass es genau richtig war, dass meine Mutter auch mal gezeigt hat, wo ihre Macht liegt. Unsere Eltern haben sich „zusammengerauft“, wie man so schön sagt, aber das Konzept ist dasselbe wie zuvor. Für die beiden funktioniert es wieder und das ist okay. Aber ich möchte niemals mein ganzes Leben in die Hände einer anderen Person geben. Für meine Schwester und für mich ist vollkommen klar, dass wir in der Lage sein wollen, uns selbst durchzubringen, damit wir auf alles vorbereitet sind. Wir setzen alles auf unsere Ausbildungen und achten darauf, ob wir etwas machen, mit dem man Geld verdienen kann.

Wir Kinder gehen inzwischen auch kritischer mit unserer Mutter um. Wir treiben sie an, sich selbst mehr um Finanzielles zu kümmern. Ihr macht das Angst, denn es zeigt ihr, dass die Zeiten des blinden Vertrauens vorbei sind.

Wenn meine Eltern Diskussionen haben, nimmt sich meine Mutter immer etwas zurück, denn es liegt nicht in ihrer Natur konfrontativ zu sein – aber mich macht das wahnsinnig. Ich brauche jemanden, mit dem ich auf Augenhöhe diskutieren kann und vor dem ich mich, weil ich unabhängig bin, nicht klein machen muss. Natürlich diskutiert meine Mutter mit meinen Vater auch deshalb ungern, weil immer die Angst mitschwingt, dass er dann doch wieder unzufrieden sein könnte. Diese Macht würde ich einem Mann nie über mich geben wollen.

Meine Mutter bedauert, dass wir diese Erfahrung mitmachen mussten

Wenn ich heute Männer kennenlerne, dann sagen die häufig, dass ich feministisch sei. Meine alten Freunde meinen, ich sei im positiven Sinn nicht wiederzuerkennen. Auf beides bin ich stolz. Ich selbst weiß aber, dass ich mich nicht ohne weiteres auf eine Beziehung einlassen kann, weil ich Angst habe, dass ich etwas von mir selbst aufgebe und mich ausliefere, so wie es meine Mutter getan hat.

Meine Mutter bedauert, dass wir diese Erfahrung mitmachen mussten, weil es uns aus unserer Blase hinauskatapultiert hat. Ich selbst bin meinem Vater zwar alles andere als dankbar für diesen Lebensabschnitt, aber es hat mich für die Realität und mein eigenes Leben gewappnet. Das ist etwas Gutes.

Ich zolle allen Frauen Respekt, deren Wunsch es ist, nur für ihre Familie da sein zu können. Denn eine Familie ist auch eine Karriere, eine sehr wichtige sogar. Aber: es ist nicht mehr meine erste Priorität, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Mir ist es wichtiger, alleine glücklich zu sein, als einen Freund zu haben. Im Gegenteil, ich gucke mir die Kandidaten inzwischen fast zu genau an. Schon beim kleinsten Anflug von Machoverhalten reagiere ich hochallergisch. Ich möchte jemanden, der mich so akzeptiert, wie ich bin und mein modernes gleichberechtigtes Rollenbild versteht.

* In diesem Text wurden viele persönliche Details aus den Leben verschiedener Personen verarbeitet. Um die Privatsphäre aller Beteiligten zu schützen, möchte die Autorin anonym bleiben. Ihr Name ist der Redaktion aber bekannt. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 25.4.2018 und wurde am 13.11.2020 noch einmal aktualisiert.

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