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Die Pandemie offenbart den Reiz der Retro-Uni

Foto: Wilhelm Gunkel / Unsplash; Bearbeitung: jetzt

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Um 8.15 Uhr mit Augenringen, Kopfschmerzen und mangelnder Motivation auf einer äußerst unbequemen Holzbank sitzen. Sich darüber aufregen, dass das Mikrofon knackt, die Dozentin zusätzlich noch nuschelt und die Schriftgröße auf den Vorlesungsfolien viel zu klein ist – was nach einem zähen Szenario klingt, ist derzeit meine größte Sehnsucht.

Statt Hörsaal 1010 heißt es bei mir aktuell täglich WG-Zimmer 54 im Wohnheim. Einen Raumwechsel wird es in diesem Sommersemester nicht mehr geben. Stattdessen werde ich das Ende meines Bachelorstudiums am heimischen Schreibtisch bestreiten. Meine Abschlussarbeit werde ich im Herbst wohl ebenfalls alleine dort verfassen, anstatt in der geselligen Universitätsbibliothek.

Ich muss zugeben, dass ich in den vergangenen Jahren viel über die Uni gemeckert habe. In den alten Uni-Gebäuden sei es im Sommer immer zu warm, in den neu renovierten aufgrund der aggressiven Klimaanlage hingegen zu kalt. Die Dozierenden sollten ihre Vorlesungen doch bitte endlich aufnehmen und sie digital zur Verfügung stellen. Schließlich stamme das Format der Vorlesung noch aus dem Mittelalter. Aus einer Zeit in der Studierenden noch keine Bücher zur Verfügung standen und Inhalte daher mündlich vorgetragen wurden. Ich habe mich beschwert, dass in den Seminaren Übersichten, Texte und Handouts in Papierform ausgeteilt wurden. Dass die Unmengen an Blättern in meinen Jutebeuteln rumflogen und nicht wiederzufinden waren, wenn ich sie dann doch mal brauchte.

Mir fehlen die Kollegiengebäude, der Charme der alten Mauern

Nun sitze ich ganz alleine in meinem wohl temperierten Zimmer, vor mir keine Zettelwirtschaft – nur mein Laptop. Kopfschmerzen habe ich keine, da ich gestern Abend nicht mit meiner Lerngruppe in einer Kneipe versackt bin. Gut geht es mir dennoch nicht. Mir fehlt die Universität. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Mir fehlen die Kollegiengebäude, der Charme der alten Mauern. Der miefige Teppich und die Vorhänge in der Bibliothek, die verstaubten Bücher (ja sie sind wirklich verstaubt – ich studiere Geschichte) und die Kaffeepausen mit meinen Kommiliton*innen.

Dass die digitale Lehre momentan notwendig und unabdingbar ist, stelle ich keineswegs in Frage. Dass die „Online-Uni“ jedoch auch eine ganze Reihe Vorteile mit sich bringe, jedoch schon. Es wird angeführt, dass Studierende nun viel mehr Freiheiten hätten, gar selbstbestimmter leben könnten. Dass Fahrzeiten zur Uni wegfielen, ebenso wie zu lange Mittagspausen oder sehr kommunikative Sitznachbar*innen, die einen im Hörsaal ablenken.

In der Realität zeigt sich jedoch ein anderes Bild. Statt Flexibilität und Freiheit heißt es Video-Call mit Anwesenheitspflicht und Abgabefrist. Jeden Tag muss auf irgendeiner Plattform ein anderes Dokument hochgeladen werden – bei diesen Mengen an kleinen Essays, Exzerpten und Protokollen noch den Überblick zu behalten, ist meist genauso stressig wie das Erstellen der Inhalte selbst. Referate werden vor der Webcam gehalten. Es wird versucht, Diskussionen in Foren zu verlagern und schriftlich zu führen.

Es zeigt sich, dass vor allem eines fehlt – der Kontakt zu Leuten

Dass die Fahrt zur Uni wegfällt, bedeutet auch, dass ich morgens nicht mehr mit Kommiliton*innen über die gelesenen Texte sprechen kann. Dass mich im Seminar kein realer Mensch mehr ablenkt, bedeutet nicht, dass ich stattdessen voll fokussiert 90 Minuten auf die Dozentin im Bildschirm schaue. (Denn anstatt einer kommunikativen Sitznachbarin sind es nun zehn Tabs mit diversen Kochblogs, Pflanzentipps und Yogaübungen, auf die sich meine Aufmerksamkeit gelegentlich richtet.)

Es zeigt sich, dass vor allem eines fehlt: der Kontakt zu Leuten. Denn das, was die Universität, was Studieren ausmacht, sind das Beisammensein, die sozialen Beziehungen, der Austausch, die Diskussionen – ob mit Freund*innen in der Mensa, mit Dozierenden im Seminar oder den Kommiliton*innen während der Gruppenarbeit. Das Gelernte kritisch zu hinterfragen, seinen eigenen Standpunkt zu verteidigen und andere Ansichten kennenzulernen, ist Teil eines Studiums. Und gerade dieser Teil kommt in der „Online-Uni“ viel zu kurz. 

Ich will mich bei meinen Sitznachbar*innen darüber aufregen, dass das Mikrofon knackt

Ich will zurück in die oldschool Vorlesungen. Ich will mich bei meinen Sitznachbar*innen darüber aufregen, dass das Mikrofon knackt. Bei der weißen, fettigen, undefinierbaren Bechamel-Fertigsoße in der Mensa über Sozialismus diskutieren. Ich will ausgedruckte Seminarpläne, auf denen Deadlines und Literaturlisten zu finden sind und keine PDF-Dateien, die in irgendwelchen Unterordnern meines PCs rumgeistern. Ich will in dunklen, modrigen Bibliotheken sitzen, will in alten vergilbten Büchern blättern und mich auf gemeinsame Mate-Pausen mit meinen Kommiliton*innen freuen. 

Während ich in den vergangenen Semestern noch davon träumte, Vorlesungen und Seminare online besuchen zu können, wünsche ich mir gerade nichts sehnlicher, als mich um 7.20 Uhr mit einem Kater aus dem Bett zu quälen und in einem vollen Hörsaal auf zu klein geschriebenen Text auf einer Leinwand zu starren.

Da dieser Traum jedoch auf nicht absehbare Zeit unerfüllt bleiben wird, versuche ich mich mit der aktuellen Situation abzufinden. Das Tuscheln mit Sitznachbar*innen während der Vorlesung wird in Whatsapp-Gruppen verlagert. Da Freund*innen nun wöchentlich einen Politik-Podcast rausbringen, kann ich mir immerhin die Mensa-Diskussionen über Sozialismus und Anarchismus von zu Hause aus anhören. Nur für die weiße, fettige, undefinierbare Bechamel-Fertigsoße (die in Kombination mit Spinat-Cannelloni wirklich lecker ist!) habe und werde ich niemals einen adäquaten Ersatz finden.

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