Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Ich bin keine schlechte Freundin, nur weil ich nicht auf Nachrichten antworte

Unsere Autorin findet: Wir sollten Freundschaft nicht mit ständiger Verfügbarkeit verwechseln.
Illustration: FDE

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Alle paar Wochen, wenn ich schon Pilates gemacht und die Heizkörper abgestaubt habe, nach zwei grippalen Infekten und einer abgebrochenen Hausarbeit, setze ich mich an meinem Schreibtisch und sage: So, keine Ausreden mehr, jetzt beantwortest du mal alle Nachrichten, jetzt bekommst du dein Leben endlich in den Griff und zeigst deinen Freund:innen, dass du jemand bist, der sie immer noch lieb hat.  

Ich habe meine Whatsapp-Chats sortiert: Diejenigen, die ich beantwortet habe, archiviere ich sofort. Ich tue es mit der Erleichterung, die jeder erlebt, der ein Häkchen hinter eine besonders lästige Aufgabe auf der To-Do-Liste setzt. Wenn ich es einmal schaffe, einige Chats hintereinander abzuarbeiten, überkommt mich eine Euphorie. Fünfzehn Minuten am Tag, denke ich, mehr bräuchte es doch nicht, maximal zwanzig, wenn Sprachnachrichten dabei sind. Die meisten Nachrichten wären in wenigen Sekunden beantwortet: Ein Herz hier, ein Update dort, ein paar Fragen, ein „Ich denk an dich“. Danach würde ich mich besser fühlen. Zumindest bis die erste Freundin gleich wieder antwortet, und der Chat zurück auf meine To-Do-Liste rutscht.

   

„Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich gleich antworte“, schrieb mir eine Freundin vor Kurzem, nachdem ich gerade ihre sieben Minuten lange Sprachnachricht mit der gleichen Ausführlichkeit beantwortet hatte. „Manchmal ist man ja ganz froh, wenn man die Chats gerade so abgearbeitet hat.“ Ich war ihr natürlich nicht böse. Ich mag sie ja. Aber mein erster Gedanke bei einer neuen Nachricht ist meistens trotzdem: Bitte nicht. Ich möchte nicht schon wieder an meinem eigenen Anspruch scheitern, eine gute Freundin zu sein. Ich möchte vor allem nicht fortwährend an eine Eigenschaft erinnert werden, von der ich wünschte, ich hätte sie nicht: meine Gleichgültigkeit. Irgendwann wird jemand herausfinden, dass ausgerechnet ich, die sehr gerne Herz-Emojis verschickt und Leuten verspricht, dass sie immer ein offenes Ohr für sie hat, die immer große Umarmungen und liebe Grüße versendet, dass ausgerechnet ich vor diesem Gerät sitze und hoffe, dass eine KI bald intelligent genug sein wird, um Nachrichten in meinem Stil für mich zu verfassen.  

Ich lese jede Nachricht, ich antworte nur nicht 

Es geht nicht nur mir so. Laut einer Umfrage der TK-Krankenkasse im Jahr 2021 fühlen sich ein Viertel der Erwachsenen von der ständigen Erreichbarkeit gestresst. Meine Freundinnen und ich sind peinlich berührt davon, wie schnell sich unsere Versprechen, „auf jeden Fall in Kontakt zu bleiben“ auflösen, sobald uns unsere Chats das Gegenteil beweisen. Wir sagen, „wir hätten die Nachricht nicht gelesen“, oder die Antwort „zwar geschrieben, aber irgendwie wurde sie nie abgeschickt“. Besonders unangenehm wird es, wenn man Instastorys und BeReals postet, direkte Nachrichten aber unbeantwortet lässt. Wir rätseln über unsere Faulheit, wir sagen, es liege am ADHS, am stressigen Alltag, daran, dass letzte Woche „wirklich viel los war“. Dabei ist mein Handy nie weiter als zwei Meter von mir entfernt und ich lese, versprochen, jede Nachricht sofort. Seit Jahren. Ich habe auch noch nie vergessen, zu antworten, obwohl ich das so oft behaupte. Ich denke jeden Tag daran und tue es trotzdem nicht, und je länger ich in dieser Verdrängungs- und Verweigerungshaltung ausharre, desto mehr verbinde ich das Gefühl der Irritation und des Widerwillens nicht nur mit der Textnachricht, sondern mit der Person, die auf meine Antwort wartet, und die ich eigentlich sehr schätze.  

Mein chronisches Unbehagen ist längst zu einem Dauerzustand geworden. Es wird immer jemanden geben, dem ich noch nicht geantwortet habe. Wird mich meine pflichtbewusste Unlust die nächsten sechzig Jahre lang begleiten, genau wie die Gedanken daran, dass ich noch staubsaugen oder die Steuererklärung abgeben muss? 

Freundschaft bedeutet nicht, immer verfügbar zu sein

Ich mache das nicht noch sechzig Jahre lang mit. Ich möchte mich keinen Tag länger dafür schämen, dass ich einem Ideal an Verfügbarkeit nicht entspreche, nur, weil Whatsapp diese als Standard-Einstellung vorausgesetzt hat. Ich bin keine schlechte Freundin, weil ich nicht auf Nachrichten antworte. Ich bin nicht bereit, meine Freund:innen die nächsten sechzig Jahre lang als lästige To-Dos zu betrachten. Ich möchte nicht mehr schuldbewusst Herz-Emojis verschicken und ein SORRY in Capslock, nur um wieder und wieder zu beteuern, dass meine späte Antwort nichts über die Qualität unserer Beziehung aussagt. Ich will auch niemandem mehr versichern müssen, dass es „total okay ist“, wenn die Person nicht antwortet. Ich will, dass sich unsere aus sich aufstauenden Chatnachrichten resultierenden Scham- und Schuldgefühle ein für alle Mal auflösen. Und dafür müssen wir die Verfügbarkeit kollektiv aus der Definition von Freundschaft herausstreichen.  

Unsere Annahme, dass Verfügbarkeit und Freundschaft zusammengehören, beruht darauf, dass sich Freundschaft früher überhaupt nur aufgrund einer Verfügbarkeit entwickeln konnte. Das kann auch heute noch der Fall sein, bei mir war es allerdings das letzte Mal in der Schulzeit so. Seit ich alle zwei Jahre umziehe und Menschen über Online-Plattformen und Networking-Events kennenlerne, knüpfe ich oft erst Freundschaften – und versuche dann, für die Person verfügbar zu sein. Dabei teilen wir im Gegenteil zu früher eben keinen gemeinsamen Alltag, wenige tägliche Kontaktpunkte, wohnen oft in verschiedenen Städten. Wir verfügen über jede Menge Ressourcen, die uns unabhängig voneinander machen: Wir können uns Essen liefern lassen, Erklär-Videos auf Youtube anschauen und in jeder Lebenskrise wahlweise den Notarzt rufen oder uns Massagen und Coaching-Stunden buchen.  

Die Annahme, dass auch unsere Freund:innen aufgrund der digitalen Erreichbarkeit für uns jederzeit zur Verfügung stehen müssen, haben wir kulturell ganz selbstverständlich übernommen, ohne zu ahnen, dass Freundschaft dadurch ihren Charakter verändert. Freundschaft, die sich über Verfügbarkeit definiert, wird zur Dienstleistung.  

Im realen Leben können wir uns voneinander verabschieden und wissen: Unsere Freundschaft hält, es sind nur die äußeren Umstände, die uns dazu zwingen, den Kontakt vorläufig abzubrechen. Wir müssen nach Hause gehen oder in die Arbeit, oder fliegen für ein halbes Jahr in ein anderes Land. Im Chat dagegen sind unsere Sprechblasen nie räumlich getrennt. Sie gliedern sich seit Jahren ohne Ende untereinander. So, als wären alle meine Freund:innen jederzeit in einem Raum, immer ansprechbar und ich — spreche sie nicht an. Oder höre plötzlich auf, zu antworten.  

Was ist in Freundschaften wirklich wichtig? Nähe, Verbundenheit, Intimität. Ich möchte meine Freund:innen sehen und umarmen, zumindest mit ihnen telefonieren. Ich möchte unsere Begegnung dann auch wieder beenden, gerne und still an sie denken und mich auf die nächste freuen. Ich will diese Nähe spüren, ohne ein schlechtes Gewissen wegen dieser einen, unbeantworteten Sprachnachricht aus dem Januar zu haben.   Ich möchte nicht mehr unter meinem Pflichtbewusstsein leiden, das tue ich schon beim Hausarbeiten schreiben, beim Heizkörper abstauben, beim Pilates, fünfzehn Minuten am Tag. Und ich fange jetzt an, meinen Liebsten genau das zu schreiben. „Sorry, ich bin wirklich schlecht im Antworten. Das weißt du wahrscheinlich eh. Ich freu mich, wenn wir uns in drei Wochen sehen. Bis dahin denk ich an dich.“ 

  • teilen
  • schließen