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Der linke Diskurs ist kaputt

Leider dreht sich zu oft alles um Fragen wie: Wer macht es besonders richtig und gewinnt den Preis fürs beste Leben? Und wer schafft es, jeder einzelnen Gruppe gerecht zu werden?
Illustration: Julia Schubert

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Am Weltfrauentag war es wieder ganz schlimm. Zum Beispiel postete auf Instagram eine Frau ein Bild, auf dem sie einen Pulli mit der Aufschrift „Anything you can do I can do bleeding“ trug. Das kann man lustig finden oder nicht, Humor ist ja Geschmackssache. Aber in jedem Fall war das ein feministischer Pulli, mit dem die Frau auf eine lustige Art sagen wollte: „Frauen sind stark und können alles, was Männer können“. Nun hätte es passieren können, das darunter Maskulinisten Ekelhaftigkeiten loslassen und Frauen herabwürdigen, was mal wieder bewiesen hätte, dass der Kampf für Gleichberechtigung ein harter ist. Solche Kommentare habe ich dort zum Glück nicht gesehen. Dafür den einer anderen Frau, der leider auch beweist, dass der Kampf für Gleichberechtigung ein harter ist – weil sich die Menschen dabei gegenseitig so sehr im Weg stehen: Sie schrieb, sehr höflich, sie empfinde den Pulli als „ausschließend für alle Frauen, die nicht menstruieren“. Auf diese würde es wirken, als seien sie schwächer und weniger Frau, weil sie nicht bluten.

Mich hat das wütend gemacht. Und traurig. Der links-progressive Diskurs, dachte ich, ist wirklich im Eimer. Identitätspolitik und Toleranz und die Art, all diese Dinge zu diskutieren, sind in den vergangenen Jahren aus dem Ruder gelaufen, und wir sollten schleunigst versuchen, das wieder hinzubiegen. Sonst wird das nichts mit unseren hehren Zielen.

Vielleicht verstehen jetzt nicht alle, warum ich bei einem kleinen, noch dazu höflichen Kommentar gleich so dramatisch werde. Darum möchte ich es gerne erklären. Wenn auf dem Pulli „Women that don’t bleed aren’t women“ gestanden hätte, hätte ich jedem kritischen Kommentar applaudiert. Denn das wäre wirklich diskriminierend gewesen. Aber in diesem Fall stand auf dem Pulli ja nicht mal „We“ sondern „I“. Die Pulliträgerin menstruiert offensichtlich. Und offensichtlich sind ja auch beide Frauen Feministinnen. Doch anstatt diese Sache gemeinsam mit ganzer Energie voranzutreiben, mäkelt die eine an den Aktionen der anderen herum.

Der absolut inklusive Diskurs ist selbst exklusiv

Solche Kommentare gibt es jeden Tag zuhauf. Sie führen dazu, dass Menschen zehn Mal darüber nachdenken, bevor sie einen Post machen oder etwas sagen. Ergebnis des Nachdenkens ist, dass sie ihre Message so butterweich machen, dass jede und jeder hineinschlüpfen, sich aber leider auch niemand mehr daran stoßen kann. Anstatt darüber nachzudenken, wie sie am meisten erreichen können, denken sie darüber nach, wie sie es allen in ihrer Filterblase recht machen können. Machen zu jedem Thema Sternchen mit Anmerkungen („Hiermit ist gemeint, dass… Soll aber nicht heißen, dass…“) und Trigger-Warnungen zu ungefähr allem („Achtung, traditionelle Geschlechterrollen“, „Achtung, Essen“). Sodass am Ende jede Pointe und auch jedes Empowerment verloren geht. Und mit Wattebäuschen als Waffen wurde noch nie ein Kampf gewonnen.

Zusätzlich ist diese Art von absolut inklusivem Diskurs selbst viel exklusiver als es ein Pulli mit Witz jemals sein könnte. Die Journalistin Caroline Rosales hat kürzlich in einem Interview mit jetzt gesagt, die feministische Debatte sei ihr zu theoretisch. Sie wolle keinen Uniabschluss haben müssen, um mitmachen zu können. Ich kann das nachvollziehen. Der Abschluss, den sie dafür bräuchte, wäre außerdem von einer Uni, die es gar nicht gibt. Oft wirkt es so, als hätten die Progressiven, vor allem im Netz, ein eigenes Academia mit eigenem Fachlatein aufgebaut, bei dem es zum einen darum geht, Menschen in Schubladen zu stecken. Zum anderen darum, über die Art der Diskussionen zu streiten, statt über die Sache. Beides Dinge, die der Gegenseite andauernd vorgeworfen werden. Zurecht. Aber gerade darum sollte man es doch anders machen.

Soziale Gerechtigkeit ist ein Thema, bei dem eigentlich jede und jeder mitreden kann

Stattdessen gibt es dann etwa Bezeichnungen wie TERF („trans exclusionary radical feminists“ – Feministinnen, die transphob sind) oder SWERF („sex worker exclusionary radical feminists“ – Feministinnen, die sagen, dass Prostitution Frauen unterdrückt) oder die Kritik an einer wütenden und unsachlichen Argumentation ist auf einmal „Tone Policing“. Solche Abkürzung und „Fachbegriffe“ werden dauernd fallengelassen und das Gegenüber denkt entweder: „Puh, ok, die kennen sich echt aus und sind mir intellektuell überlegen“ und zieht sich eingeschüchtert zurück. Oder es wird pampig, denkt „Ihr seid alle bekloppt“ und zieht sich ebenfalls zurück.

Viel anderes bleibt auch nicht übrig, weil der Zaun aus Regeln und Fremdwörtern immer dichter und fester wird. Dabei ist soziale Gerechtigkeit ein Thema, für das man möglichst viele Menschen gewinnen sollte. Und bei dem eigentlich jede und jeder mitreden kann, der oder die ein bisschen gesunden Menschenverstand und ein Herz hat. Aber anscheinend ist das nicht gewollt. Anscheinend darf nur mitmachen, wer einen riesigen Katalog an Überzeugungen zu einhundert Prozent teilt und das entsprechende Vokabular gepaukt hat. Ansonsten bitte nachsitzen und dann noch mal um Einlass bitten.

Und dann wird eben auch untereinander noch dauernd belehrt und kritisiert. Ich weiß nicht, ob die Frau, die den Pulli kommentiert hat, nicht menstruiert, sich also persönlich ausgeschlossen gefühlt hat. Aber selbst dann wäre das eine sehr kleinliche Kritik gewesen, weil der Spruch ja offensichtlich nicht darauf abzielte, irgendwen auszuschließen. Und falls sie selbst menstruiert, ging es nur darum, warum sich jemand ausgeschlossen fühlen könnte. Sie wäre die Advokatin einer Gruppe, die sich selbst gar nicht dazu geäußert hat. Oft ist es richtig und wichtig, als privilegierter Mensch mit vielen Ressourcen für andere zu sprechen, die angegriffen werden und diese Ressourcen nicht haben. Aber in diesem Falle gab es ja nicht mal einen Angriff.

Wenn man wirklich etwas erreichen will, muss man es aushalten, dass andere anders denken, reden und leben als man selbst

Dieses Gemäkele à la „Hier hast du einen kleinen, individuellen Teilbereich und die Probleme und Nachteile einer kleinen Gruppe von Menschen nicht mitbedacht“ sorgt für Zersplitterung und Vereinzelung innerhalb der exklusiven, progressiven Gruppe. So kann kein Konsens entstehen. Und genauso, wie mit Wattebäuschen keine Kämpfe gewonnen werden, werden sie auch alleine nicht gewonnen. Der amerikanische Journalist David Wallace Wells, der ein sehr erfolgreiches Buch über den Klimawandel geschrieben hat, sprach kürzlich in einem Interview darüber, wie Menschen durch ihr Streben nach individueller Perfektion eine Lösung für das große, über-individuelle Problem verhindern. Er findet, statt andere ständig für ihren Lebensstil zu kritisieren, weil der zum Beispiel immer noch nicht komplett vegan ist, sollte man sich über alle freuen, die irgendwie mitmachen. Jeder Mensch mehr, der über das Problem nachdenkt, etwas ändert und am Ende eine entsprechende Wahlentscheidung trifft, ist wichtig. Es geht schließlich nicht darum, als Einzelner den Preis für das umweltfreundlichste Leben zu gewinnen. Sonden darum, gemeinsam die Welt zu retten. Und diese Erkenntnis lässt sich leicht auf andere Debatten übertragen.

Konsens, das klingt so angenehm. Dabei ist es irre unbequem, einen zu finden. Aber wenn man wirklich etwas erreichen will, muss man es aushalten, dass andere anders denken, reden und leben als man selbst. Wichtig ist doch, dass im Prinzip alle das Gleiche wollen. Gleichberechtigung zum Beispiel oder eine Welt, auf der auch in Zukunft noch Menschen und Tiere leben. Individuelle Probleme und Befindlichkeiten muss man dafür auch mal zurückstellen. Gerechtigkeit für alle bedeutet eben nicht, jedem Einzelnen voll und ganz gerecht zu werden. Wer das versucht, erreicht am Ende gar nichts.

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