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„Wer immer Jogginghose trägt, beraubt sich eines Stücks Lebensfreude“

Mode als Ausdruck der Persönlichkeit – das geht uns während der Pandemie verloren, so Barbara Vinken.
Illustration: FDE

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Seitdem Bars, Cafés und Clubs geschlossen sind, beschäftigen sich viele Menschen nicht mehr so intensiv mit der Frage, was sie anziehen sollen – sieht ja niemand. Geht es nach Barbara Vinken, ist das ein großes Problem. Die Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin hat in Zürich und New York gelebt und lehrt an der LMU München und der École des Hautes Études en Sciences sociales in Paris. Die Mode beschreibt sie in ihrem Buch „Angezogen“ als „Fremdkörper im Herzen der Moderne“. Mode sei nicht sparsam, sondern verschwenderisch. Die Mode wolle nicht überzeugen, sondern verführen. Und jetzt? Ein Gespräch über Jogginghosen und die Frage, warum Instagram kein halb so guter Laufsteg ist wie ein Café.

jetzt: Die Jogginghose ist in der Pandemie so populär wie vielleicht noch nie. Ärgert Sie das?

Barbara Vinken: Ärgern? Auf keinen Fall. Denken Sie an Madame de Pompadour, eine Mätresse von Ludwig XV: „Seien Sie immer heiter, wenn Sie schön seien wollen.“ Aber eine Krise wie die Pandemie legt den Finger auf Fehlentwicklungen. Sagen wir es mit den höflichen Schweizern: suboptimal. Die 24-Stunden-Jogginghose ist suboptimal. 

Aber sie ist so bequem! Was ist so schlimm daran?

Schlimm ist es nicht, aber was Stilsicherheit angeht, ist da Luft nach oben. Die Haltung wird von den Kleidern beeinflusst. Wenn man etwas scharf Geschnittenes trägt, kann man schärfer denken und schärfer formulieren. Es gibt tolle, weite Marlene-Dietrich-Hosen, sogenannte Writer's Pants. Die sehen besser aus als eine Jogginghose und sind ausgesprochen komfortabel.

interview pandemie mode portrait

Barbara Vinken lehrt unter anderem an der LMU München.

Foto: Alessandra Schellnegger

Was tragen Sie denn, wenn Sie einen Tag lang im Homeoffice sitzen?

Ich hülle mich von Kopf bis Fuß in Kaschmir, weich und warm. Die Kunst des Anziehens liegt nicht darin, im gebügelten Anzug zu Hause sitzen. Aber man hat eine andere Einstellung zu Leben und Arbeit, wenn man jederzeit unter Leute gehen kann.

In Ihrem 2014 erschienenen Buch „Angezogen“ schreiben Sie, dass Mode immer gewissen Regeln folgt. Hat die Pandemie diese Regeln dann also außer Kraft gesetzt?

Nein, die Jogginghose ist der aktuellste Ausdruck des Sprechakts, der die Mode in der Moderne in Verruf gebracht hat. Nämlich mit seinen Kleidern zu sagen, dass es auf sie nicht ankommt, denn – so die Haltung: „Ich habe Wichtigeres zu tun, als auf Kleider Gedanken zu verschwenden. Und ich habe es nicht nötig, mich nach meinem Äußeren beurteilen zu lassen: bei mir geht es um die inneren Werte, um mein authentisches Ich.“ Ziemlich narzisstisch. Oscar Wilde sagte so treffend: „Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach Äußerlichkeiten.“ Die Pandemie hat diesen unfreundlichen Narzissmus verstärkt, und das ist schade.

Warum?

Alles verschwimmt zu einem grauen Allerlei. In Kombination mit den Kontaktbeschränkungen ist die Rhythmisierung des Tages und der Jahreszeiten dahin, zwischen unten und außen, öffentlich und privat, drinnen und draußen.

„Man kann diesen Einheitsbrei nicht mehr sehen“

Aber es gibt doch Tiktok! Und Instagram. Dort kann man seinen neuen Look ja auch von daheim aus der Öffentlichkeit zeigen. Ein guter Ersatz? 

Nein. Ein Foto oder Video nehme ich isoliert für mich auf und schaue in eine tote Kamera. Das ersetzt nicht die Wirklichkeit des Augenblicks: auf der Straße, im Café, da lächelt man sich an. Oder man veräppelt sich, lacht sich auch mal aus. Auf jeden Fall macht man etwas zusammen.

Aber etwas Gutes hat das doch: Man wird nicht mehr oberflächlich darauf reduziert, welche Kleidung man trägt.

Ach, was heißt schon „reduziert“? Man wird einer der schönsten Künste des Lebens beraubt: des individuellen Ausdrucks. Das Leben wird unendlich arm. Ich glaube, es geht den meisten so. Man kann diesen Einheitsbrei nicht mehr sehen. 

Was halten Sie dann von Levis-Jeans und einfarbigen Blusen von Zara, also Normcore?

Naja. Praktisch, quadratisch, gut. Das ist auch vollkommen okay. Mode darf nicht zu einem Druck werden und muss Vergnügen bleiben. Aber wenn man es immer macht, verliert man die Lebenskunst und Spielmöglichkeiten. Wer immer Jogginghose trägt, beraubt sich eines Stücks Lebensfreude.

Raf Simons, der Chefdesigner beim Luxuslabel Prada ist, sagte vor ein paar Monaten: „Wir alle wissen, wie die Zwanziger aussahen: eine Explosion der Mode, Ausgehen, Sex.“ Werden wir nach der Pandemie also die Mode feiern wie nie zuvor?

Alle werden von einer wahnsinnigen Lebenslust erfasst sein, weil wir für ein, zwei Jahre einen Großteil dessen, was das Glück des Lebens ausmacht, verloren haben. Überschäumend können wir uns wieder ins Leben stürzen. Natürlich wird es Nachwehen geben. Trauer über den Verlust von Angehörigen, Long Covid, langsam abnehmende Angst. Aber wie nach allen Seuchen wird der Lebensrausch kommen.

Wie drückt der sich in der Mode aus?

Vorfreude ist die schönste Freude. Die diesjährigen Frühjahrs-Kollektionen geben einen Vorgeschmack auf das Leben nach Corona: bunte Blütenkaskaden. Üppige Muster. Stoff in Hülle und Fülle. Die sprießenden Knospen werden nach der Pandemie voll erblühen.

Was wird das Kleidungsstück nach der Pandemie?

Bei den Frauen der weit schwingende Rock, auch mit Spitzen und Rüschen: raumgreifende Lebensfreude. Bei den Männern, glaube ich, Pink, ganz viel Pink. Pinke Hemden, pinke Shirts.

Was sollten die modisch weniger Ambitionierten machen, um nicht völlig unterzugehen?

Untergehen wird hoffentlich niemand. Aber sich ganz unehrgeizig einfach treiben lassen im Vergnügen, was Interessantes ausprobieren, das kann jeder. Selten ist so bewusst geworden, was es heißt, wenn andere einen nicht mehr anschauen, es keine öffentlichen Augenblicke mehr gibt.

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