Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Wie man politisch korrekt beleidigt und flucht

Beleidigen sollte man nie - aber was wenn man muss?
Foto: fotofrank / Adobe Stock; Illustration: jetzt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Der erste Fluchende der Geschichte, glauben wir zumindest dem Alten Testament, ist Gott. „Weil du solches getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und vor allen Tieren auf dem Felde“, spricht er zu der Schlange, die Eva dazu verführte, die verbotene Frucht zu essen, „Auf deinem Bauche sollst du gehen und Erde essen dein Leben lang.“

Wenn wir als Sterbliche (ver)fluchen und beleidigen, heben wir zwar nicht die Welt aus den Angeln. Dennoch haben die Worte, die wir hervorknirschen, eine reale Wirkung: Wir bauen Frust und Schmerzen ab. Ich kann etwa keinen Text schreiben, ohne zu fluchen. Allein bis zu dieser Zeile tat ich es bereits fünf Mal. Scheiße.

Die Pain Overlap Theorie behauptet, dass körperliche und emotionale Schmerzen dasselbe Verarbeitungssystem im Gehirn teilen. Fluchen und beleidigen wir, versetzen wir unseren Körper in eine physische Stresssituation. Adrenalin, Cortisol und Endorphine werden ausgeschüttet. All das lindert das soziale und somit auch körperliche Schmerzempfinden, wie neuseeländische Wissenschaftler*innen herausfanden.

Fluchen ist gesund. Und irgendwie auch schön. Unter dem Namen Malediktologie widmet sich eine gesamte Forschungsrichtung dieser Praxis. Der Schimpfwortbereich ist einer der kreativsten überhaupt innerhalb der Sprache, er bedient sich verschiedener Soziolekte und Dialekte. Und er ist demokratisch! Alle können mitfluchen, mit oder ohne Uni-Abschluss.

Doch unsere Worte formen nicht nur unsere Wirklichkeit, sondern auch die unseres Gegenübers, an das sie vielleicht gerichtet sind. Wir würdigen herab und kränken. Wir provozieren Scham, Wut, Ohnmacht, im schlimmsten Falle Depressionen. Doch nicht nur das: Die Begriffe, die wir benutzen, verraten viel über unser gesellschaftliches Selbstverständnis. Welche Eigenschaften und gar Menschengruppen dienen kollektiv als Schimpfvorlage? Wer wird abgewertet? Auf welchen Schimpfkanon greifen wir zurück? Und wie hängt dieser mit historisch gewachsenen, strukturellen, politischen Diskriminierungen zusammen? Auch wenn wir ohne konkrete Adressat*innen sprechen (und fluchen), tun wir dies niemals in einen luftleeren Raum. Andere hören mit. Abwertungen werden normalisiert. Fluchen und Beleidigen ist höchst politisch.

Abgeordnete beschimpfen sich gegenseitig am häufigsten als Idiot

Ein Blick in den Bundestag: Laut Recherche des Magazins Vice beleidigen Abgeordnete in ihren Reden am liebsten mit dem Begriff „Idiot“, der mitsamt Abwandlungen in 70 Jahren Parlamentsgeschichte 114 Mal genannt wurde. Und auch in meinem Freund*innenkreis erfreut er sich großer Beliebtheit, gerade weil er im Gegensatz zu anderen vulgären Beschimpfungen so harmlos daher zu kommen scheint. Doch ist das wirklich so?

In der griechischen Antike bezeichnete der Begriff (altgriechisch: idiotes) noch gewöhnliche Bürger oder Menschen, die als politisch ungebildet oder als ignorant den öffentlichen Angelegenheiten gegenüber galten. Bis ins 18. Jahrhundert behielt der Begriff zumindest im Deutschen diese Konnotation bei. Das änderte sich jedoch im 19. Jahrhundert durch den Einfluss aus dem Englischen: Ein Idiot war und ist verrückt oder schwachsinnig.

Diese Zuschreibungen sind saneistisch. Das bedeutet: Sie werten Menschen systematisch ab, die nicht einer vermeintlich neuronalen Norm oder dem, was unter mentaler Gesundheit verstanden wird, entsprechen. Menschen werden als psychisch gestört, als Verrückte gebrandmarkt. Genauso wie Rassimus oder Sexismus haben auch Diskriminierungsformen wie Saneismus oder der verwandte Ableismus (der sich allgemein gegen be*hinderte Menschen richtet) politische Konsequenzen. Das zeigt der Blick in die Geschichte.

„Penner“ als Beleidigung würdigt arme Menschen herab

Der Begriff Idiot war fester Teil der NS-Propaganda. Er diente dazu, die systematische Ermordung von Menschen mit unterschiedlichen neuronalen Seinsweisen und anderen Menschen, die angeblich von körperlichen oder geistigen Normen abwichen, zu rechtfertigen. Wer „Idiot“ brüllt, reiht sich selbstverständlich nicht gleich in die Tradition der Nazis ein. Doch mit dieser Beleidigung wird ein Kanon der Gewalt fortgeschrieben, der Menschen mit psychischen Erkrankungen bis heute als minderwertig markiert.

Was also tun? Die Frage habe ich mir im Sommer 2019 gestellt. Nicht nur, weil ich leidenschaftlich gerne fluche, sondern weil die Themen Anti-Diskriminierung und Gerechtigkeit, auch im Bereich der Sprache, mich seit Jahren als Journalistin beschäftigen. Also habe ich den Workshop Fluchen und Beleidigen ohne sexistisch, rassistisch, klassistisch oder ableistisch zu sein ins Leben gerufen.

Das Motto ist: Fluchen und beleidigen, immer gerne! Aber dann in diskriminierungsfreier Sprache. Dazu kläre ich mit den Teilnehmenden im ersten Schritt die Grundlagen: Welche Geschichte und Zuschreibungen stecken hinter Rassismus, Sexismus und anderen Diskriminierungsformen? Dann ordnen wir gemeinsam gängige Beleidigungen ein: „Penner“ = klassistisch, weil das Wort arme, wohnungslose Menschen herabwürdigt; „Schlampe“ = sexistisch, weil – ist doch klar; „Affe“ = kolonialrassistisch, klassistisch und gegebenenfalls sexistisch, weil der Begriff mitunter dazu dient, Schwarze Menschen zu animalisieren, sexualisieren und auszubeuten. Genauso wie Diskriminierungsformen sich überlappen können, bedienen auch sprachliche Zuschreibungen unterschiedliche historische und politische Codes, je nach Sprecher*in und je nach Adressat*in. Klingt kompliziert? Ja, ist es. Und genau deswegen hilft es, darüber zu sprechen.

Die Wissenschaftlerin Madita Oeming fragte kürzlich auf Twitter ihre Follower*innen nach Inspirationen für Beleidigungen, „ohne dabei klassistisch, ableistisch, rassistisch, homofeindlich, body shamend oder sonst in irgend einer Form eklig diskriminierend zu sein“. Das Ergebnis war ein herrlich kreativer und lehrreicher Thread. Schriftsteller Saša Stanišić tobte sich poetisch aus: „Möge an jedem Tag Deiner Harz-Wanderung Nieselregen sein.“ Andere hatten praktischere Empfehlungen: „Knalltüte“ oder „Flachkopfnieten“.

Neutrale Begriffe als Beschimpfung?

Auf neutrale Bereiche unserer Sprache zurückzugreifen, ist bei Fluchneuschöpfungen tatsächlich eine beliebte Option. Es können Gebrauchsgegenstände sein oder auch Gemüse. „Du Schimmelbrokkoli!“, zum Beispiel. Oder ich kann auf Eigenschaften zurückgreifen, die alle Menschen gemeinsam haben und keine explizit marginalisierte Gruppe herabsetzen, „Arschloch“ etwa. Ich empfehle außerdem mit verstärkenden Adjektiven zu arbeiten: „Du scheiß/verdammter Schleimkopf“ kommt

jedenfalls brutaler daher als ganz ohne Anhängsel.

Problem gelöst? Das Ganze hat einen Haken. Die meisten Teilnehmenden in meinen Workshops etwa verspüren bei „Du Stinkekäse“ nicht annähernd dieselbe körperliche Befriedigung, wie wenn sie einem anderen Menschen „Bastard“ entgegenschmettern. Wahrscheinlich geht es vielen so, ich manchmal eingeschlossen. Da merken wir, mit welcher Macht sich der Schimpfkanon in unseren Körper eingeschrieben hat. Vielleicht wird uns das überraschen, denn eigentlich würden wir uns feministisch und aufgeklärt nennen. Und doch merken wir entsetzt, dass uns der Tabubruch reizt.

Und selbst Gemüse ist nicht vollständig unbelastet. Eine Zeit lang gebrauchte ich häufig das Schimpfwort „Lauch“, bis eine Kollegin erwähnte, den Begriff empfinde sie als sexistisch, da er in der Regel an Männer gerichtet werde, die nicht Männlichkeitsnormen von Stärke und Durchsetzungskraft entsprachen. Also strich ich auch „Lauch“ aus meinem Wortschatz.

Heute weiß ich: Es gibt kein absolut diskriminierungsfreies Schimpfen

Heute weiß ich: Es gibt kein absolut diskriminierungsfreies Schimpfen. Unsere Sprache ist immer durchzogen von Auf- und Abwertungen, versteckten Konnotationen und Traumata. Solange unsere Gesellschaft eine diskriminierende ist, gibt es immer nur eine Annäherung an diskriminierungsfreies Sprechen. Und diese ist nur eine Momentaufnahme, bis wir eines Besseren belehrt werden. Bedeutet dies, wir sollten das Kapitel einfach schließen? Nein, ganz im Gegenteil.

Diskriminierungsfreie Sprache und diskriminierungsfreies Schimpfen ist zwar harte Kopf- und Körperarbeit. Doch jede Annäherung ist ein Versuch wert, wenn wir Ungerechtigkeiten nicht fortschreiben wollen. Die Arbeit zwingt uns, uns mit unseren eigenen verinnerlichten Auf- und Abwertungen auseinander zu setzen. Und im besten Fall erwächst daraus ein politisches Bewusstsein, das uns dazu antreibt, die gesellschaftlichen Umstände, die zu diesen Kategorien führen, zu verändern.

Fluchen und beleidigen in diskriminierungsfreier(er) Sprache zwingt uns, kreativ zu sein, mit Freund*innen zu diskutieren und daran zu wachsen. Vor einigen Monaten bekam ich aus dem nichts eine Textnachricht von einer Freundin, von der ich lange nichts gehört hatte. Darin stand: „Mein neues diskriminierungsfreies Lieblings-Schimpfwort: Arschtasche.“

  • teilen
  • schließen