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Das Lernen über Antisemitismus sollte nie aufhören

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Am 9. November 1938 ereignete sich in Deutschland die Reichspogromnacht. In dieser Nacht demolierten Nazis Geschäfte jüdischer Besitzer, zündeten Synagogen an, zerstörten Häuser und Wohnungen. Wie viele Jüdinnen und Juden in dieser Nacht und in den Tagen darum genau ermordet wurden, ist nicht ganz klar, Schätzungen gehen aber von mehreren Hundert aus. Der 9. November ist deswegen ein Gedenktag. Und doch darf gerade heute „Pegida“ auf dem Dresdner Altmarkt demonstrieren. Die Jüdische Gemeinde Dresden reagierte „mit großer Fassungslosigkeit und voller Empörung“ darauf – insbesondere, weil ihr aufgrund der Corona-Maßnahmen das eigene öffentliche Gedenken verwehrt wurde.

Von 2018 auf 2019 registrierte das Bundesinnenministerium einen Anstieg antisemitischer Straftaten um 13 Prozentpunkte. Im vergangenen Jahr wurden mehr als 2000 judenfeindliche Delikte gemeldet. Damit sind die Zahlen  so hoch wie noch nie seit Beginn der statistischen Erfassung vor fast 20 Jahren.

Jüdisches Leben spielt sich vor einer Drohkulisse ab

Für den Alltag jüdischer Gemeinden bedeuten diese Zahlen ganz konkret: Überwachungskameras, gepanzerte Türen und Fenster, um sich schützen zu können. Immer wieder kommt es zu antisemitischen Schmierereien auf jüdischen Gräbern und Denkmälern, zu Übergriffen und Anschlägen wie dem in Halle. Jüdische Feiertage können inzwischen nur noch unter Polizeischutz stattfinden. Dass auch dieser keine absolute Sicherheit bieten kann, zeigte der Angriff auf einen jüdischen Studenten vor einer Hamburger Synagoge.

Weil Antisemitismus also offensichtlich immer noch Teil unserer Gesellschaft ist, glauben wir, dass Bildung über dieses Thema sehr wichtig ist. Aus der Redaktion empfehlen wir Bücher, Filme und Social-Media-Kanäle dazu:

Bücher über Antisemitismus:

„Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“ von Samuel Salzborn, 2020

Sein Buch bezeichnet der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn zwar als Essay, es ist aber vor allem auch ein 100-seitiger Crashkurs darüber, wie die deutsche Gesellschaft seit 1945 mit ihrer Schuld umgeht. Wobei aus Salzborns Sicht dieser Umgang eher ein Verharmlosen ist als ein kritisches Aufarbeiten. Zum einen bespricht Salzborn seine These an einigen Beispielen aus der Popkultur – von den Heimatfilmen aus den 1950er Jahren bis zu jüngeren Filmen wie „Der Untergang“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“. Was die Werke eint, ist aus Salzborns Sicht ihr Hang zur Opfersicht der Deutschen. Auch die Zahlen, die Salzborn liefert, lassen manchen den Atem stocken: Zum Beispiel, dass 55 Prozent der Deutschen heute zumindest teilweise sagen: „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.“ 

„Desintegriert Euch!“ von Max Czollek, 2018 

Ein „guter muslimischer Migrant“ distanziert sich stets ungefragt von Islamismus und lernt schnell die deutsche Sprache? Ein „guter Jude“ äußert sich ständig zum Holocaust, zu Antisemitismus und zum Judentum ganz allgemein, wenn „der Deutsche“ das gerne von ihm hätte? Max Czollek, 1987 geboren, lebt in Berlin – und hat mit „Desintegriert euch“ eine Streitschrift geschrieben, die diese Regeln mindestens in Frage stellt, anficht und auseinander nimmt. Er schreibt darüber, wie er sich fühlt, wenn die AfD in Deutschland Erfolge feiert – und das „deutsche Gedächtnistheater“ um die Schoah währenddessen allein dazu dient, die Deutschen von ihrer historischen Schuld zu befreien. Das Buch ist wütend, macht nachdenklich – und zerstört so einige Pfeiler, auf denen es sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft ganz gemütlich eingerichtet hatte.

„weiter leben. Eine Jugend“ von Ruth Klüger, 1994

In „weiter leben“ schreibt die kürzlich verstorbene Autorin, Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger über ihre Kindheit vor und nach dem Holocaust. Mit elf Jahren wurde die Jüdin ins KZ Theresienstadt verschleppt. Sie überlebte, oder, wie sie es mal in einem Interview beschrieb: „Ich habe nicht überlebt, ich gehöre zu den toten Kindern.“ In „weiter leben“ erzählt Ruth Klüger scharfsinnig und offen von ihren Kriegserinnerungen – aus einer weiblichen Perspektive, was, wie sie immer wieder problematisiert, keinesfalls selbstverständlich ist: „Die Kriege gehören den Männern, daher auch die Kriegserinnerungen.“

„LTI. Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer, 1947

„Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da“, so lautet einer der bekanntesten und zeitlosesten Absätze aus Victor Klemperers „LTI – Notizbuch eines Philologen“. Der jüdische Romanist Klemperer analysierte und dokumentierte in Tagebuchform heimlich die Sprache des Nationalsozialismus. Dabei entlarvte er, dass sie eben nicht „nur“ Sprache ist, sondern verschränkt ist mit antisemitischer, faschistischer Ideologie. Eine Sprache, die das ganze seelische Wesen steuere, je selbstverständlicher man sich ihr überlasse.  

Filme und Dokus über Antisemitismus:

Die Frage, was eigentlich Antisemitismus ist und wie er entstanden ist, beantwortet dieses kurze Erklärvideo vom Bayerischen Rundfunk. Außerdem zu empfehlen ist der Kurzfilm Masel Tov Cocktail“ (2020). Er nimmt uns für etwa 30 Minuten mit in das Leben des ukrainisch-jüdischen Schülers Dima. Trickreich und humorvoll erzählt der Film von einer eigentlich traurigen Begebenheit: Dima sieht sich in seinem deutschen Schulalltag regelmäßig antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt – und wird damit alleine gelassen. Wenn man nur einen einzigen Film zum Thema sehen will, dann diesen. Ansonsten empfehlen wir:

„Ida“ von Pawel Pawlikowski, 2013

Der Film spielt im Polen der 1960er Jahre und erzählt die Geschichte der jungen, verwaisten Novizin Anna, die kurz vor ihrem Ordensgelübde erfährt, dass sie Jüdin ist. Sie will mehr über ihre Vergangenheit herausfinden und sucht das Grab ihrer Eltern. Der Rezensent Hartwig Tegeler (DLF Kultur) schreibt: „Ein Roadmovie durch eine bleierne Zeit, durch ein Land, das wie erstickt wirkt durch die Nachwirkungen der Shoah, den Exzessen des Stalinismus und den weiter schwelenden Antisemitismus. Ein Film, der heute aktueller wirkt denn je.“

Defamation“ von Yoav Shamir, 2009

Dass Antisemitismus wichtig für Israelische Identitätspolitik ist, will der israelische Filmemacher Yoav Shamir in seinem Dokumentarfilm „Defamation“ zeigen. Zu Beginn des Films blickt Shamir in die israelischen Medien und stellt fest: Nazi, Holocaust, Antisemitismus, diese drei Wörter begenen ihm jeden Tag. Antisemitismus scheint weltweit ein großes Problem für Juden und Jüdinnen zu sein. Das wundert ihn, denn er selbst habe als Jude in Israel nie Antisemitimus erfahren. Deshalb begibt sich Shamir mit seiner Kamera auf eine Lernreise, um mehr über Judenfeindlichkeit zu erfahren. In Israel und den USA trifft er auf Personen und Organisationen, die sehr unterschiedlich und kontrovers über Antisemitismus denken. In Polen begleitet er eine israelische Schulklasse auf ihrer obligatorischen Reise zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Shamir beleuchtet, welche Rolle Judenfeindlichkeit für Israel und jüdische Identität spielt. Sein Film kommt zu dem Schluss, dass die Grenze zwischen echtem, gefährlichem Antisemitismus und Hysterie fließend ist. Die Perspektive, die Shamir hier eröffnet, ist nicht unumstritten. In jedem Fall regt „Defamation“ zum kritischen Nachdenken an. 

Social Media, Blogs und Podcasts:

Der Verein Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. (JFDA) berät bei judenfeindlichen Vorfällen und betreibt eine Informationsplattform. Das JFDA engagiert sich darüber hinaus in der politischen Bildungsarbeit und setzt sich vielfältig im Sinne seines Namens ein.

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) betreibt ein Meldesystem für antisemitische Vorfälle. Die Organisation verzeichnet alle gemeldeten Vorfälle in einer Chronik und steht Betroffenen beratend zur Seite. Eine weitere zivilgesellschaftliche Vertreterin ist die Bildungsstätte Anne Frank. Der Frankfurter Verein berät unter anderem zu Antisemitismus und ist in der politischen Bildungarbeit aktiv. Mit Seminaren, Workshops, Ausstellungen und zahlreichen Projekten gibt die Bildungsstätte marginalisierten Gruppen eine Stimme.

Die jüdische Autorin Juna Grossmann betreibt den Blog „irgendwie jüdisch. Hier schreibt die gebürtige Berlinerin über jüdisches Leben in Deutschland. Außerdem produziert sie seit etwa einem Jahr mit Chajm Guski den Podcast „Anti & Semitisch. Darin sprechen sie unter anderem mit Jenny und Eliyah Havemann (BlogDie dreizehn Blumen) über israelische Politik. 

Der weltweit bekannteste jüdische Podcast ist übrigens Unorthodox. Hier sprechen die drei Hosts Mark Oppenheimer, Stephanie Butnick und Liel Leibovitz (auf Englisch) über Neuigkeiten aus der jüdischen Gemeinschaft. Auch für nichtjüdische Menschen interessant. 

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