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Wie „Fridays for Future“ politische Lobby-Arbeit machen

Illustration: FDE

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Eigentlich sei es erschreckend, sagt Carla Reemtsma, dass Kindern und jungen Erwachsenen die Aufgabe übertragen werde, Klimaschutz politisch zu verankern. Da fällt ihr Frans Timmermans in Wort: „Wieso denn? Das ist doch schön!“ Er grinst. „Ich find’ das nicht schön!“, entgegnet Carla freundlich, aber auch ein bisschen konsterniert. „Wir haben ein unterzeichnetes Abkommen (gemeint ist das Pariser Klimaabkommen, Anm. d. Red.) und die Politikerinnen und Politiker schaffen es nicht, einen Plan zu machen, wie wir das einhalten.“ Dann spricht sie weiter, über eine drohende Erderwärmung von vier oder fünf Grad, vom gefährlichen „Wirtschaft versus Klima“-Narrativ, vom möglichen Kollaps des Systems. Timmermans grinst nicht mehr, er nickt. 

Carla Reemtsma, 21, Politikstudentin in Münster und Klimaaktivistin bei „Fridays for Future“, hat sich am 16. Juli in Brüssel mit Frans Timmermans, EU-Kommissar für Klimaschutz, getroffen. 45 Minuten lang diskutierten die beiden über die Klimapolitik der EU, das Gespräch wurde per Livestream übertragen. „Timmermans und andere sind sehr gut darin, von Transformation zu sprechen“, sagt Carla anschließend am Telefon. „Aber wenn man sich ihre Pläne genauer anschaut, sieht man, dass damit die Klimaziele nicht eingehalten werden.“ Trotzdem zieht sie auch eine positive Bilanz: „Es war ein guter Diskurs und es ist wichtig, dass wir auch auf EU-Ebene präsent sind.“

Carla ist längst nicht die einzige aus den Reihen von Fridays for Future (FFF), die persönlich mit einem Politiker diskutiert. Viele Aktivist*innen suchen mittlerweile aktiv den Kontakt zur Politik, von der europäischen Kommission über den Bundestag bis zu Landtagen und Stadträten. Einen Tag nach Carlas Besuch in Brüssel diskutierten Luisa Neubauer und Greta Thunberg sowie die belgischen Aktivist*innen Adélaïde Charlier und Anuna de Wever mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Thunberg, Timmermans und von der Leyen trafen sich bereits Anfang März zu einem Gespräch. Anfang Juli rief FFF dazu auf, deutsche Bundestagsabgeordnete anzurufen, um sie zu überzeugen, gegen das Kohleausstiegsgesetz und damit für einen Ausstieg vor 2038 zu stimmen. FFF-Ortsgruppen organisieren Treffen mit Landtagsabgeordneten oder dem Gemeinderat und besuchen öffentliche Ausschusssitzungen. Im vergangenen Jahr gab es beim FFF-Sommerkongress einen Workshop zum Thema „Abgeordnetengespräche“ und es gibt eine eigene Arbeitsgruppe zu diesem Thema. 

Der direkte Kontakt zu politischen Entscheider*innen ist für die Bewegung im Laufe der Zeit also wichtiger geworden – und jetzt, da Massenproteste wegen der Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit nicht stattfinden können, bekommt er eine noch größere Bedeutung. Man könnte sagen: Manche, die bei FFF aktiv sind, sind nicht mehr nur Aktivist*innen, sie sind auch Lobbyist*innen fürs Klima.

„Lobbying“ hat eine negative Konnotation, dabei bedeutet es ja erstmal nur: Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen

Der Begriff macht vielen von ihnen allerdings Bauchschmerzen. Denn bei „Lobby-Arbeit“ denken nicht nur sie an Hinterzimmer-Deals im Sinne der Wirtschaft, an die Tabak- oder die Kohleindustrie, an Profit statt Gemeinwohl. Lobbying hat eine negative Konnotation, dabei bedeutet es ja erstmal nur: Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, vor allem durch die Pflege persönlicher Kontakte. Auch Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen lobbyieren die Politik. „Im Zweifelsfall kann man das, was wir machen, schon Lobby-Arbeit nennen“, sagt Carla Reemtsma nach ihrem Termin in Brüssel. „Aber mein Gespräch mit Timmermans würde ich eher als Öffentlichkeitsarbeit bezeichnen.“ Es wurde live gestreamt und es gab einen Moderator, das Ganze glich eher einer Talkshow. Das Gespräch von Luisa Neubauer und ihren Mitstreiterinnen  mit von der Leyen passt schon eher in die Definition von „Lobbying“, weil es nicht öffentlich in den Räumen der Kommission stattfand.

Egal, wie man den Kontakt von Aktivist*innen und Politiker*innen nennen möchte, interessant ist er allemal. Das sieht auch Moritz Sommer vom Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung so. „Das ist ein ungewöhnlicher Schritt, denn Protestbewegungen sind per definitionem eigentlich außerhalb des politisch-institutionellen Gefüges“, sagt er. In der Umweltbewegung gäbe es normalerweise eine feste Arbeitsteilung:  Aktivist*innen, die durch Protest Druck machen, und Umweltverbände, die das Gespräch mit der Politik suchen. FFF bricht diese Struktur auf. „Die Bewegung ist ein Sonderfall, weil sie von Anfang an der Politik nicht diametral gegenüber stand“, sagt Sommer. FFF stellt immer wieder die eine systemimmanente Forderung: Die Bundesregierung, die Landtage, die EU-Kommission sollen ihre Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse treffen. 

„Im Moment ziehen wir Bilanz und fragen uns: Wie kann Protest neben Massenaktionen und Demos aussehen“, sagt Helena Marschall von FFF. Die 18-Jährige war in Frankfurt mehrfach bei öffentlichen Sitzungen des Umweltausschusses und hat sich dort auf die Redner*innenliste setzen lassen. „Wir waren teils mit 30 Jugendlichen im Saal und die Stadtregierung hat gemerkt, dass sie uns nicht mehr ignorieren kann“, sagt sie. Aktuell wohnt sie für einige Monate in Berlin und hat die Telefonaktion zum Kohleausstiegsgesetz mit organisiert. 

„Das ist nur eine Ergänzung und wird niemals ersetzen, was wir auf der Straße machen“, betont Helena

Die Idee stammt aus den USA. Dort rufen Graswurzelbewegungen regelmäßig dazu auf, Kongressabgeordnete oder Senator*innen anzurufen und etwa ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu fordern. FFF hat sich davon inspirieren lassen und zwei Tage vor der Abstimmung im Bundestag auf ihrer deutschen Webseite ein Tool bereitgestellt: Interessierte konnten ihren Namen, ihre Adresse und ihre Telefonnummer angeben und wurden automatisch vom System angerufen. Per aufgenommener Nachricht zählte Luisa Neubauer dann die Argumente auf, warum das Kohleaustiegsgesetz abzulehnen sei. Anschließend wurde der*die Anrufer*in direkt mit dem Büro des oder der Abgeordneten aus dem eigenen Wahlkreis verbunden. 

Das Tool wurde für mehr als 3000 Anrufe genutzt (dazu zählen allerdings auch mehrfache Anrufe bei derselben Person), die meisten davon, nämlich 1646, bei SPD-Abgeordneten.

Auf den ersten Blick war die Aktion nicht erfolgreich: Am 3. Juli wurde das Gesetz im Bundestag mit 314 zu 237 Stimmen verabschiedet. „Dass wir das verhindern können, war natürlich von Anfang an fraglich“, sagt Helena. „Aber wir wollten das Gesetz im Vorfeld maximal skandalisieren. Es sollte nicht einfach sein, diese Entscheidung zu treffen. Und die Abgeordneten mussten uns gegenüber Rechenschaft ablegen, das war eine superwichtige Erfahrung.“ Die Aktion werde sicher zu einem anderen Zeitpunkt wiederholt. „Aber das ist nur eine Ergänzung und wird niemals ersetzen, was wir auf der Straße machen“, betont Helena. Auch für sie persönlich hätten Abgeordnetengespräche keine Priorität, sagt sie.

Für Noemi Mundhaas, 25, waren sie von Anfang an Teil ihrer Strategie. „Ich mache das seit meiner ersten ,Fridays for Future’-Woche“, sagt sie. Noemi hat für die Bewegung sogar ihr Physikstudium in Konstanz ein Jahr pausiert und seit Anfang 2019 viele Gespräche mit Politiker*innen geführt. Die vom Protestforscher Moritz Sommer beschriebene „Sonderrolle“ ist ihrer Meinung  nach ein großer Vorteil: Bei Greenpeace oder dem WWF sei den Politiker*innen meist vorher klar, was deren Vertreter*innen zu sagen hätten, und den radikaleren Aktivist*innen von ,Ende Gelände’ oder ,Extinction Rebellion’ hörten sie ohnehin nicht zu. „Aber uns schon. Weil es noch keine langjährige Geschichte gibt.“ 

Wenn FFF-Aktivist*innen im Stadtrat auftauchen oder im Abgeordnetenbüro anrufen, ist das zur Zeit also noch eine Art „Überraschungsangriff“. Als Gegenüber muss man sich die Argumente dann zumindest einmal anhören. Teils arbeitet FFF dabei mit Wissenschaftler*innen von den „Scientists for Future“ zusammen, die sie in den Gesprächen unterstützen. Den oft gehörten Vorwurf, dass FFF selten konkrete politische Lösungen vorschlägt, lässt Noemi nicht auf sich sitzen: „Wir geben nur die Richtung vor, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert. Das umzusetzen und die entsprechenden Gesetze zu schreiben, ist der Job der Politiker*innen.“

Manchmal kommen die Aktivist*innen dem „echten Lobbyismus“ ganz nah

Ob man als „Fridays for Future“-Aktivist*in solche „Lobby-Arbeit“ macht oder nicht, ist letztlich eine individuelle Entscheidung. Die Fridays sind keine NGO, kein Verein, kein Interessenverband mit fester Struktur, sondern nach wie vor eine dezentral organisierte Protestbewegung. Trotzdem gibt es Situationen, in denen sich ihr Aktivismus und der „echte“ Lobbyismus sehr nah kommen. Leo Doden, 20, von FFF Österreich, war Anfang März beim Streik gegen das geplante europäische Klimagesetz in Brüssel, zusammen mit Greta Thunberg und FFF-Delegierten aus ganz Europa. Über den Kontakt zu einer NGO bekamen mehrere Aktivist*innen, darunter Leo, Zutritt zu einem informellen Treffen der Brüsseler „Green 10“ – ein Zusammenschluss von zehn Umweltorganisationen, unter anderem Greenpeace und der WWF – mit europäischen Umweltminister*innen und Delegierten in einem Hotel-Restaurant. 

„Plötzlich haben wir mit Minister*innen zu Abend gegessen“, erzählt Leo am Telefon und man hört, dass ihn die Erinnerung daran amüsiert. „Das klingt gemütlich – aber die Aktivist*innen waren nicht gemütlich. Für die Damen und Herren war das ein etwas unentspannterer Abend als geplant.“ Einige Minister*innen hätten sich „in Rage geredet“ und „heftige Diskussionen“ mit den Aktivist*innen angefangen, sagt Leo. „Wir haben sie immer wieder gefragt: Warum geht dies und das denn nicht? Und sie aufgefordert, outside of the box zu denken.“ 

Die Frage ist: Wie viel bringt das? Können Aktivist*innen so wirklich den Kurs der Politik beeinflussen? Von ihnen selbst bekommt man darauf immer dieselbe Antwort: Es sei wichtig, Präsenz zeigen. Und die Gespräche seien eine gute Ergänzung zum Straßenprotest. Der Protestforscher Moritz Sommer sagt, dass durch die Streiks überhaupt erst die Grundlage für das „Lobbying“ entstanden sei: „Durch Fridays for Future gibt es jetzt eine andere Legitimation von Umweltthemen als früher.“ 

Das Risiko ist, dass die Politik sich mit den jungen Menschen „schmückt“

Dass der Klimaschutz seit dem vergangenen Jahr eins der wichtigsten politischen Themen geworden ist, wird zumindest in Teilen immer wieder den jungen Aktivist*innen zugerechnet – auch von Politiker*innen. EU-Klimakommissar Frans Timmermans betont etwa gerne, dass es ohne Fridays for Future keinen europäischen „Green Deal“ gäbe, also keinen Plan für ein klimaneutrales Europa bis 2050. Das ist allerdings auch das Risiko der aktivistischen Lobby-Arbeit: Dass die Politik sich mit den jungen Menschen „schmückt“, um so das Signal zu senden „Wir tun etwas für euch“, ohne die Forderungen zu erfüllen. Oder gar, um sie für sich zu gewinnen, damit sie ihre Forderungen an die aktuellen politischen Realitäten anpassen. Bisher haben die Aktivist*innen sich ihre Unabhängigkeit bewahrt. „Dass sich Politiker*innen mit uns treffen und dann noch ein schönes Foto machen wollen, ist ein Geschenk, aber auch eine Gefahr”, sagt Leo. „Wir müssen das zu unserem Vorteil nutzen.“ Das heißt: Die Entscheider*innen regelmäßig daran erinnern, was sie in den Gesprächen versprochen haben. 

Was dabei auch nicht schadet: eine hohe Frustrationstoleranz. Denn oft sind die Aktivist*innen von den Gesprächen enttäuscht. Nicht, weil sie ihren Willen nicht kriegen, sondern, weil es nicht schnell genug geht. Sie verweisen auf die Wissenschaft, darauf, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, einen langfristigen Anstieg der globalen Temperatur auf weit mehr als 1,5 Grad zu verhindern. „Ich rede seit einem Jahr mit dem Landrat, das ist sehr mühsam und die Zeit rennt uns davon“, sagt Noemi. „Manche argumentieren immer noch, das alles sei wissenschaftlich nicht belegt.“ Helena Marschall bekommt drei Wochen nach der Abstimmung über das Kohleausstiegsgesetz eine E-Mail von ihrem Bundestagsabgeordneten: Er habe aus Überzeugung zugestimmt. „Das ist sehr ernüchternd“, sagt sie. Und Carla sagt: „Das Problem ist, dass die Klimakrise so zeitkritisch ist. Das Klima verhandelt nicht.“ 

Ans Aufgeben denkt keine von ihnen. „Wir werden weitermachen“, sagte Carla auch zu Frans Timmermans. „Denn wenn wir es nicht machen, macht es keiner.“ Damit meinte sie vor allem: auf die Straße gehen. Denn Demos sind für FFF weiterhin das wichtigste Druckmittel – trotz Corona-Pandemie. Für den 25. September ist der nächste globale Klimastreik geplant. 

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