Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Wir sollten aufhören, den Westen als den Standard zu sehen“

Jule und Rike machen den Podcast „Kohl Kids“ gemeinsam.
Foto: Philipp Pongratz

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

30 Jahre nach der Wiedervereinigung macht es immer noch einen Unterschied, ob man in West- oder in Ostdeutschland aufgewachsen ist oder lebt. Der gleiche Azubi verdient in den neuen Bundesländern etwa fast drei Prozent weniger als in den alten Bundesländern. Trotzdem kommen die sogenannten Nachwendekinder in der medialen Berichterstattung kaum vor. In ihrem gemeinsamen Podcast „Kohl Kids“ geben Juliane „Jule“ Wieler, 27, und Friederike „Rike“ Schicht, 29, dieser Generation eine Stimme. Mit Gästen sprechen sie jede zweite Woche über Unterschiede, Gemeinsamkeiten und das Aufwachsen im wiedervereinigten Deutschland der 90er Jahre. 

Jule, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Jule Wasabi, ist in einer schwäbischen Kleinstadt aufgewachsen und für ihr Studium nach Berlin gezogen. Sie moderiert neben „Kohl Kids“ auch den Deutschrap-Podcasts „Schacht & Wasabi“ und produziert Audio-und TV Formate. Rike ist in einer Mittelstadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen und für ihr Studium nach Leipzig gezogen. Sie ist freie Journalistin und Redakteurin für das Polit-Talk-Format „Fakt ist“ (MDR). Wir haben mit den beiden über Ossi- und Wessi-Klischees gesprochen und darüber, was aus ihrer Sicht passieren muss, damit endgültig Gleichheit herrscht.

„Die zentralsten Unterschiede sind, glaube ich, die Lohn- und Vermögensunterschiede“

jetzt: Wann habt ihr eure west- beziehungsweise ostdeutsche Sozialisation das erste Mal bewusst bemerkt?

Jule: Dieses Bewusstsein kam bei mir sehr spät, ich würde sogar behaupten, so richtig erst in den Gesprächen mit Rike. Wir haben die deutsch-deutsche Geschichte zwar in der Schule behandelt, da aber eigentlich nur in „den Osten“ geschaut, weil es dort anders war, beziehungsweise die Veränderung sichtbar war. Wir, als Westsozialisierte, waren der Standard, den man sich gar nicht genauer anschauen musste. Das prägt mich immer noch, auch wenn ich von mir behaupten würde, dass ich inzwischen sensibler mit dem Thema umgehe. Wir haben zum Beispiel überlegt, ob wir den Podcast „0049“ nennen sollen, das ist aber die Vorwahl der alten Bundesrepublik, die von der DDR einfach übernommen werden musste.  

Rike: Für mich war das Thema der Unterschiede zwischen „Osten“ und „Westen“ schon immer viel präsenter. Ich bin mit Eltern aufgewachsen, die in der DDR sozialisiert wurden und deren Erfahrungen innerhalb der DDR und in den frühen 90er Jahren zuhause oft thematisiert wurden. Mein Schlüsselmoment war, als ich nach Köln umgezogen bin und ich das erste Mal in meinem Leben den „Ostdeutschland-Stempel“ bekommen habe.Mir ist dann zunehmend bewusst geworden, was in meiner Kindheit und Jugend im ehemaligen Ostdeutschland anders war als bei meinen westsozialisierten Kommiliton*innen.

Welche Unterschiede gibt es zwischen ost- und westsozialisierten Nachwendekindern?

Rike: Am zentralsten sind, glaube ich, die Lohn- und Vermögensunterschiede. Es gibt ein Lohngefälle zwischen Ost und West. Ostdeutsche erben viel weniger, in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern nicht mal die Hälfte des Bundesdurchschnitts. Im sozialen Bereich ist in den ehemals ostdeutschen Bundesländern die Kinderbetreuung viel besser ausgeprägt, es gibt zum Beispiel wesentlich mehr Kitas. Deshalb gibt es auch mehr berufstätige Frauen und weniger Frauen in Teilzeit. 

Jule: Es sind oft auch die einfachen Dinge des Alltags, wie Sternelokale. Klar kann man sich jetzt fragen, wen Sternelokale interessieren, aber es gibt eben kaum welche im Osten. Aus all diesen kleinen Teilen lässt sich ein Mosaik zusammensetzen, das zeigt, dass die Menschen, die im Westen geboren werden, in eine stärkere Wirtschaft geboren werden und mehr Möglichkeiten in fast jedem Bereich des täglichen Lebens haben.

Viele glauben dennoch, dass es im wiedervereinigten Deutschland  keinen Unterschied macht, ob man im ehemaligen Ost- oder Westdeutschland geboren wurde.

Rike: Meine Eltern haben mir tatsächlich oft gesagt, dass ich die erste „Gesamtdeutsche“ in unserer Familie bin und die Geschichte der DDR nicht mehr meine Geschichte ist. Je älter ich wurde, desto stärker habe ich dann aber gemerkt, dass die Idee von der Nachwendegeneration als Generation der Deutschen Einheit für mich eine Illusion ist. Ich habe die Unterschiede wahrgenommen. Ich dachte lange, dass es uns Deutsche trennt, den Unterschied zwischen Ost- und Westsozialisation zu benennen. Aber wir müssen uns damit auseinandersetzen, welche Unterschiede noch bestehen, selbst wenn wir sie nicht an uns selbst erleben. Ich mache niemandem einen Vorwurf, für den das kein Thema ist, weil er*sie keinen direkten persönlichen Bezug dazu hat. Aber wir müssen uns ehrlich fragen, ob wir Unterschiede wahrnehmen oder selber Vorurteile reproduzieren.

Jule: Die Corona-Karte ist so ein Beispiel. Wenn nach Gründen gesucht wird, warum die Infektionszahlen in den neuen Bundesländern geringer sind als in den alten, geht es oft nicht um politisches Vermögen oder Geographie. Da kommen alte Sprachbilder hoch, wie „die Ossis reisen weniger“. Zu behaupten, es spiele keine Rolle mehr, ist eine privilegierte und meist westdeutsche Position, mit der man sich auseinandersetzen sollte.

Heute ist Ostdeutsch-Sein zum Teil meiner Identität geworden, genauso wie Frau-Sein und Europäerin-Sein

Welche Rolle spielt eure Sozialisation als Teil eurer Identität heute?

Rike: Ich sage heute, dass ich Ostdeutsche bin. Das hätte ich vor fünf oder sechs Jahren nicht gesagt. Ich glaube, ich habe damals nicht mal gesagt, dass ich aus Ostdeutschland komme, sondern aus Mitteldeutschland. Ostdeutschland war so negativ konnotiert, dass ich mich dafür geschämt habe. Heute ist das Ostdeutsch-Sein zum Teil meiner Identität geworden, genauso wie Frau-Sein und Europäerin-Sein. 

Jule: Bei mir kommt die Besonderheit dazu, dass ich aus Schwaben komme. Ich habe, als ich zum Studium nach Berlin gezogen bin, auch versucht, mir meinen Dialekt abzugewöhnen. Irgendwann war ich dann mal wieder zu Hause und habe gemerkt, wie schön es war, einfach drauf los zu schwätzen. Ich glaube, wir müssen zwischen Heimatverbundenheit und Patriotismus differenzieren. Ich bin nicht stolz darauf, wo ich herkomme – das wäre Patriotismus und den finde ich problematisch – aber ich schäme mich nicht mehr für das, was mir von zuhause mitgegeben wurde. 

Warum war es euch wichtig, das Thema in einem Podcast zu verarbeiten?

Rike: Ich will das schon machen, seit ich nach Köln gezogen bin. Dieses Jahr in dem das 30-jährige Bestehen der Deutschen Einheit gefeiert wurde, habe ich in der Berichterstattung wieder gemerkt, dass es eigentlich immer nur um die Generation geht, die auch noch in der DDR beziehungsweise BRD gelebt hat. Die Nachwendegeneration findet in dieser Debatte nicht statt. Sollte sie aber.

Jule: Es gibt innerhalb der Nachwendegeneration eine starke Emotionalität im Bezug auf das Thema ostdeutsche Identität und deutsch-deutsche Geschichte. Mir ist das durch das Trettman-Album, insbesondere den Song „Grauer Beton“ aufgefallen. Trettmann singt darin von der Zeit nach der Wende, als die Träume der Menschen nach Wohlstand und Freiheit nach westlichem Vorbild sich in eine graue Tristess verkehrt haben. Er ist in der zweitgrößten Neubausiedlung der DDR in Chemnitz aufgewachsen. Ich glaube, so geht es vielen. Jede*r mit dem*der ich darüber gesprochen habe, hatte eine Meinung zu dem Thema. Diese verschiedenen Blickwinkel zusammen mit jungen Stimmen wie Alli Neumann oder Lilly Blaudszun zu besprechen, fanden wir unglaublich spannend.

Gibt es etwas, das euch in den Gesprächen für den Podcast besonders überrascht hat?

Jule: Wir haben die Rubrik „Klischee der Woche“. Rike meinte, dass sie gerne auch „West-Klischees“, also Klischees, die Ostdeutsche über Westdeutsche haben, besprechen würde. Ich wusste weder, dass es „West-Klischees“ gibt, noch welche das sind und war total vom Begriff des „Besser-Wessis“ überrascht. Und dann haben wir tatsächlich auch eine Statistik gefunden, in der sich genau dieses Klischee niederschlägt: Die Mehrzahl der befragten Westdeutschen sagt, sie wissen es besser. Es muss eben nicht nur bei ostdeutschen, sondern auch bei westdeutschen Klischees mal rausgewischt werden.

Damit reproduziert ihr die Klischees aber auch.

Jule: Diese Klischees werden tagtäglich ausgesprochen und sind in den Köpfen verankern. Wir witzeln bewusst nicht über Bananen, sondern widerlegen oder bestätigen Vorurteile mit Statistiken und historischem Kontext. Ich glaube, so verschwinden sie eher aus den Köpfen, als wenn man sie ignoriert.

In einer eurer Folgen beschäftigt ihr euch mit dem Thema Rassismus und rechte Strukturen. Welche Rolle spielen die Erfahrung der Wiedervereinigung und die deutsch-deutsche Geschichte da? Rike: Ostdeutschland hat ein großes Problem mit Rassismus und Rechtsextremismus – man muss sich nur Pegida, AfD-Wahlergebnisse und rechtsextreme Gewalttaten anschauen. Diese Wut lässt sich nur verstehen, wenn man die Transformationsprozesse in den frühen 90er Jahren versteht. Die Netflix-Serie „Rohwedder“ gibt das Stimmungsbild gut wieder – den Frust, die Enttäuschung und vor allem die Aussichtslosigkeit und Ohnmacht. Man darf aber nicht der Annahme verfallen, dass das ein dezidiert „ostdeutsches Problem“ ist. Rassismus ist ein strukturelles Problem, das wir nicht bekämpfen können, wenn wir es nur auf die fünf Bundesländer im Osten schieben. 

Jule: Wir haben das Thema deshalb nicht nur zu zweit besprochen, sondern uns Helen Fares dazugeholt, die in der zweiten Generation in Leipzig aufgewachsen ist. Helen meinte, dass sie durch die Erfahrung ihrer Eltern die Wut auf ein politisches System, demgegenüber man sich egal fühlt, gut nachvollziehen kann. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, wie man damit umgehen kann.

„Ich glaube, wir sollten aufhören, den Westen als den Standard zu nehmen und daran den Osten zu messen“

Und wie kann man damit umgehen? Rike: Auf politischer Ebene muss Gleichheit geschaffen werden – es ist ein Unding, dass es immer noch einen Mindestlohn Ost-West gibt. Ausreden, wie „Aber ihr zahlt doch weniger Miete“ sind für mich einfach inakzeptabel. Abgesehen davon gibt es gerade aber eine Generation junger Ostdeutscher, die sehr selbstbewusst mit ihrer ostdeutschen Identität umgehen. Wir haben 30 Jahre versucht, die Unterschiede zu überwinden und trotzdem sterben wir Ostdeutschen früher, sind dicker und essen mehr Fleisch. Ich glaube, wir sollten aufhören, den Westen als den Standard zu nehmen und daran den Osten zu messen. Warum kann man es nicht einfach dabei belassen, politische und wirtschaftliche Gleichheit anzustreben und kulturelle Unterschiede zu akzeptieren? Norddeutschland soll ja auch nicht sein wie Süddeutschland.

  • teilen
  • schließen