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Der Moment, in dem ich verstand, dass es zwei Deutschlands gab

Illustration: FDE

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Sie wirken bis heute nach, die 41 Jahre, in denen Deutschland geteilt war. Das wissen auch die Jüngeren, die die DDR eigentlich nur aus dem Geschichtsbuch und aus Reden des Bundespräsidenten kennen. Obwohl die Zeit der Teilung längst vorbei ist, gibt es bei vielen irgendwann im Leben einen mehr oder weniger klaren Moment, ein Erlebnis oder ein Gespräch, bei dem man verstanden hat: Es gibt sie doch noch, die Unterschiede zwischen Ost und West, jenseits von Arbeitslosenzahlen und Mietpreisniveaus. 

Unsere Redaktion stammt aus Ost und (vor allem aus) West. Was uns eint, ist die Tatsache, dass wir so jung sind, dass wir das geteilte Deutschland nicht wirklich erlebt haben. Hier erzählen wir von den Momenten unserer Ost-West-Erkenntnis.

Niclas, 30, aufgewachsen bei Lübeck

„Als ich 2011 nach meinem westdeutschen Abitur mit dem Studieren anfangen wollte, bekam ich nur eine einzige Zusage: aus Jena. Natürlich nahm ich den Studienplatz an. Hauptsache raus aus der Heimat, rein ins Studium. Ich war voller Vorfreude, die Reaktionen meiner Mitmenschen auf mein neues Zuhause überrumpelten mich. Sie alle gingen ungefähr so: „Wo studierst du bald? In Dunkeldeutschland?“ 

Angekommen in Jena entwickelte sich aus ihren hämischen Bemerkungen in mir eine Art Kovertitenstolz. Ich war jetzt ein Wessi im Osten, ein Wossi. Während bei ihren Unis in Köln, Berlin oder Stuttgart der Putz von der Decke bröckelte und Seminarräume wegen Asbest-Gefahr gesperrt wurden, freute ich mich über die frisch sanierte Top-Uni in einer der schönsten Städte Ostdeutschlands. 

Mittlerweile wohne ich in München, der Lokalstolz auf Jena und den Osten ist geblieben. Ich merke, dass ich gerade in den vergangenen Jahren lauter werde, wenn im Westen über den vermeintlich zurückgebliebenen Osten geschimpft wird. Pegida, AfD, Chemnitz. Ich will das nicht durchgehen lassen. Einmal habe ich in so einer Diskussion dermaßen engagiert für die überwältigende Mehrheit guter Menschen in Sachsen und Thüringen gestritten, dass mich ein Freund anerkennend als „halber Ossi“ geadelt hat. Der Freund kommt aus Erfurt. Und sein Lob hat mich sehr stolz gemacht.“

Lina, 21, aufgewachsen in Weimar

„Weil meine Mutter relativ kurz nach der Wende nach Thüringen gezogen ist, bin ich in einem ost-sozialisierten Umfeld aufgewachsen. Ich habe eigentlich schon immer in dem Bewusstsein gelebt, dass das Land geteilt war und es zwei Staaten gab, die sich wirtschaftlich und kulturell stark unterschieden haben. 

Ich glaube, der krasseste Moment für mich war, als ich mich mit einem Kommilitonen von mir an meinem jetzigen Studienstandort Hildesheim unterhalten habe. Er erzählte mir, dass er noch nie in einem der neuen Bundesländer war und diese Bundesländer auch überhaupt nicht auf dem Schirm hat. Er sagte, dass das ehemalige Ostdeutschland für ihn immer noch wie ein anderes Land sei, dessen Geschichte und Kultur für ihn nie von Relevanz war. Ich fand das damals wirklich krass, dass bei ihm darüber nie gesprochen wurde und er keine Ahnung von der Lebensrealität in der ehemaligen DDR hatte.“ 

Franzi, 24, aufgewachsen in Köln

„Beim gemeinsamen Trinken vor zwei Jahren machten meine Kommiliton*innen einen spontanen Vorschlag: Ob wir nicht alle zusammen nach Chemnitz fahren wollen, zu dem Vortrag unseres ehemaligen Professors. Sie klangen dabei freudig bis unbeschwert. Aber ich konnte die Vorfreude nicht teilen. Denn da war es noch nicht allzu lange her, dass in Chemnitz gewalttätige Ausschreitungen von rechtsextremen Gruppen stattgefunden hatten. Für mich als nicht-weiße Frau war es nicht die schönste Aussicht, in eine Stadt zu fahren, in der ich von Neonazis bedroht werden könnte (obwohl ich ja weiß, dass das auch in „Westdeutschland“ passieren kann). Ich habe diese Bedenken nicht geäußert; aus dem Ausflug ist sowieso nichts geworden. Aber ich denke, ich hätte mich überwinden sollen, um mir ein differenziertes Bild der Stadt machen zu können.“

Marcel, 30, aufgewachsen in Erfurt

„Im Sommer 2004 fuhr ich als 14-Jähriger zum ersten Mal ohne meine Eltern in den Westen. Bei meinem Heimat-Fußballverein ging es gerade um den Aufstieg, also reisten wir Fans alle zusammen mit der Regionalbahn zum 1. FC Schweinfurt, nicht mal zwei Stunden entfernt von meinem Zuhause. Keine Weltreise also. Aber als wir dann im Stadion ankamen, merkte ich: Uns Erfurter und die Schweinfurter trennten offenbar immer noch Welten. „Wessischweine, Wessischweine“, begannen ein paar Männer noch vor dem Anpfiff aus unserem Fanblock in Richtung der Tribüne zu brüllen, es waren zunächst vor allem die Älteren. Von der Gegenseite brüllten sie auch irgendwas zurück, aber das verstand man nicht. 

Dann stiegen immer mehr in den Gesang ein. Die 40-Jährigen, die 30-Jährigen, die 20-Jährigen, die zur Wende ja gerade mal Kinder oder Teenager waren. „Wessischweine, Wessischweine“, riefen sie nun alle mit Gesichtern, die gleichzeitig glücklich und wütend aussahen. Es wurde immer lauter. Und ich glaubte in diesem Moment zu verstehen, dass auch 14 Jahre nach der Wende hier noch ein paar Rechnungen offen waren zwischen Ost und West. Dass dieses „Wessischweine“ mehr bedeutete als ein normaler Fußball-Schmähgesang. Die Leute, die mitbrüllten, meinten es ernst. Dann schauten meine Freunde und ich uns grinsend an, wir fanden das lustig und rebellisch, also machten wir mit. Ohne zu wissen, was es genau bedeuten würde. Aber ich verstand: Die da drüben mögen im selben Staat leben, aber sie sind offenbar trotzdem anders als wir.“

Sophie, 29, aufgewachsen in Würzburg

„Als ich in der fünften Klasse war, bekamen wir in der Mitte des Schuljahres eine neue Mitschülerin. Sie war in Weimar geboren worden, zog dann mehrmals um – und erzählte, dass sie an ihrer letzten Schule gemobbt worden war, weil sie „aus dem Osten kam“. Was sie erleben musste, ist wirklich krass. Unter anderem haben die anderen Kinder versucht, ihren Kopf in die Kloschüssel auf der Schultoilette zu tunken. Da habe ich das erste Mal gemerkt, dass es Menschen gibt, die danach differenzieren, ob man im „Osten“ oder im „Westen“ geboren wurde. Ein paar Jahre später erzählte mir eine andere Freundin, dass ihre Geschwister zum Studium niemals „in den Osten“ gehen würden. Verstanden hab ich das nie. Ich war während meines Masters in Leipzig sehr glücklich.“ 

Anton, 30, aufgewachsen in Thüringen

„Dass es Ost- und Westdeutschland gab, ist mir eigentlich schon klar, seit ich denken kann. Welche Bedeutung die Teilung für die Menschen in der DDR hatte, wurde mir aber erst relativ spät bewusst. Als Elf- oder Zwölfjähriger war der Tag der Deutschen Einheit für mich noch ein Feiertag wie jeder andere. Schulfrei, super! Die Hintergründe waren mir relativ egal. Das hat meine Mutter in Gesprächen mit mir offensichtlich gespürt und mir auf sehr emotionale Weise erklärt, welches Glück wir haben, dass wir reisen und Verwandte in ganz Deutschland besuchen können. Da hat es Klick gemacht.“

Charlotte, 32, hat als Kind in West-Berlin gelebt

„Meine Eltern haben sich im Studium in West-Berlin kennengelernt, ihre Eltern waren mit dieser Ortswahl aufgrund der aus ihrer Sicht gefährlichen Insellage der Stadt nicht glücklich. Für mich gehörten Fahrten über ehemalige Grenzposten und schlechte Autobahnen also von klein auf dazu, wenn wir zu Opa und Oma nach NRW oder Süddeutschland fuhren. So richtig geschnallt, dass auch Berlin geteilt war, habe ich allerdings erst mit elf Jahren. Damals schauten wir eine Doku über zehn Jahre Mauerfall bei meinen Großeltern in Karlsruhe. Da wurden auf einmal alle ganz emotional. Offenbar waren meine Eltern zum Mauerfall gar nicht in Berlin – sondern mit uns Kindern zu Besuch bei Opa und Oma in Karlsruhe. DIE historische Entwicklung schlechthin bei uns um die Ecke hatten wir verpasst. Ich glaube, das bereuen meine Eltern bis heute.“

Lara, 26, aufgewachsen in Franken

„Ich habe Familie in Mecklenburg-Vorpommern. Ich wusste zwar schon als Kind, dass dieses Bundesland in der DDR gelegen hatte und es lange schwierig gewesen war, die Verwandten dort zu besuchen. Aber was das auch später noch für sie bedeutete, wurde mir erst später klar. Beim Familientreffen kam mein Verwandter aus Mecklenburg-Vorpommern mit mir auf Politik zu sprechen, nachdem er erfahren hatte, dass ich Journalistik mit Schwerpunkt Politik studierte. Ich sagte ihm, dass ich „eher links“ sei. Ich hielt das für eine harmlose Aussage, ihm allerdings entglitten alle Gesichtszüge. Er begann plötzlich, mich schnippisch anzugehen. Ob ich denn wisse, was „die Linken“ angerichtet hätten damals, ob ich denn nicht verstehen würde, wie desaströs linke Politik sei. Erst da wurde mir klar, wie sehr uns die frühere Trennung von Ost und West noch heute in unserem Denken beeinflusst.“

Raphael, 31, aufgewachsen in München

„Meine Großeltern kommen aus einem Dorf in Bayern, das direkt an der Grenze zu Thüringen liegt. Ein anderer Teil der Familie lebte ein paar Hundert Meter weiter, also im Osten. Die Geschichten über „Familienbesuche“, die eigentlich nur aus Winken bestanden, Grenzkontrollen und Aussichtsplattformen für Westdeutsche, um auf Ostdeutschland (herab) zu schauen, kenne ich, seit ich ein Kind war. Auch kahle Streifen im Wald, wo früher die Grenzmauer stand, haben sich ziemlich eindrücklich in mein Gedächtnis gebrannt.

Trotzdem hat es bei mir relativ lange gedauert, bis ich verstand, dass die Teilung zwischen West- und Ostdeutschland nicht nur Geschichte ist. Dass diese Teilung bis heute reale Auswirkungen auf uns alle hat, die weiter gehen als schlechte Stand-up-Comedy mit Ossi- und Wessi-Witzen. Das ist erst durch ehrliche Gespräche mit ostdeutschen Freunden passiert, in denen wir uns über unser Aufwachsen und auch über bis heute bestehende Ressentiments in Ost- und Westdeutschland ausgetauscht haben.“

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