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„Das Kindeswohl wird bei Abschiebungen kaum berücksichtigt“

Theo und Tierra sind beide 18 Jahre alt und wurden jetzt für ihr Engagement ausgezeichnet.
Foto: FM4 Radio

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Die Österreicher*innen Theo Haas und Tierra Rigby, beide 18, haben den Ute-Bock-Preis für Zivilcourage verliehen bekommen. Der Preis ehrt überdurchschnittliches ehrenamtliches Engagement im Menschenrechtsbereich. Ihr Engagement haben die beiden Schüler*innen im Januar dieses Jahres unter Beweis gestellt. Durch Petitionen, Sitzblockaden, und offene Briefe setzten sie sich gegen die Abschiebungen ihrer Mitschülerinnen Tina, zwölf, und Sona, 20, ein. Tina ging auf dieselbe Schule wie Theo, das Realgymnasium Stubenbastei in Wien. Sona war auf der höheren Schule für Wirtschaftliche Berufe am Reumannplatz in Wien die Klassenkameradin von Tierra.

Auch ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass diese beiden Fälle große Aufmerksamkeit erregten. Selbst Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen verurteilte damals in einer Videobotschaft die Abschiebung: „Ich kann und will nicht glauben, dass wir in einem Land leben, wo dies in dieser Form wirklich notwendig ist“, hieß es darin. 

Tina wurde in Österreich geboren und hat ihr Leben größtenteils in Österreich verbracht. Trotzdem wurden sie,  ihre kleine Schwester und ihre Mutter abgeschoben. Sona kam als Minderjährige nach Österreich, besuchte eine weiterführende Schule und wurde mit ihrem minderjährigen Bruder Ashot und ihren Eltern nach Armenien abgeschoben. Für Tina war Georgien bis dahin völlig unbekannt, sie konnte die Sprache weder lesen noch schreiben. Sona kam 2016 nach Österreich und stand kurz vor ihrem Matura.

Tierra, Theo und Dutzende weitere Mitschüler*innen und Lehrer*innen hatten sich bemüht, die Abschiebung der beiden zu verhindern, was ihnen letztendlich nicht gelang. Theo und Tierra können sich deswegen nicht über den gewonnen Preis freuen. Im Interview erzählen die beiden, wie sie sich weiterhin gegen ihrer Ansicht nach unmenschliche Abschiebungen und eine Rückholung ihrer Mitschülerinnen einsetzen werden.

jetzt: Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr den Preis in Händen hattet? 

Theo Haas: Ich hätte niemals damit gerechnet und  war total überrascht. Wir haben uns beide natürlich sehr darüber gefreut und geehrt gefühlt. Ute Bock war und ist für viele ein echtes Vorbild. So viele Menschen kennen den Ute-Bock-Preis, und jetzt haben wir den einfach gewonnen, das war schon verrückt und eine unglaubliche Ehre.

Tierra Rigby: Natürlich gibt es viele hochengagierte Leute, die den Preis genauso verdient hätten. Wir haben ihn nur stellvertretend für alle Jugendlichen, die sich in den letzten Monaten so eingesetzt haben, bekommen. Es ist aber auch ein Auftrag, dass wir weitermachen müssen.

Womit müsst ihr weitermachen?

Tierra Rigby: Es werden immer noch Menschen herzlos abgeschoben. Da muss man definitiv was verändern. Die Fälle von Tina und Sona waren ein Beispiel für das, was im System falsch läuft. Es sind keine Einzelfälle. Es passieren so viele Ungerechtigkeiten, die wir bekämpfen müssen. 

Theo Haas: Ich bin noch lange nicht zufrieden. Ich wünsche mir, und dafür werden wir auch kämpfen, dass irgendwann Gesetze gemacht werden, die das Kindeswohl nicht nur auf dem Papier in den Mittelpunkt stellen. 

Haben Sona und Tina mitbekommen, dass ihr den Preis gewonnen habt? Und wenn, wie haben sie reagiert?

Tierra: Sona hat es mitbekommen, sie hat sogar die Preisverleihung im Netz geschaut und sich sehr für mich gefreut. Sie ist sehr dankbar und stolz auf uns. Aber wir haben den Preis stellvertretend für meine Klasse und für die Jugend angenommen, also kann sie auf alle stolz sein. Wir schicken ihr unser Preisgeld in Höhe von 2000 Euro, das Geld ist sehr wichtig für sie. Ein Teil davon wird für Nachhilfe verwendet werden, damit Sona und Tina die für sie neuen Sprachen lernen können.

Tina und Sona wurden trotz allen Bemühungen abgeschoben, wie habt ihr euch dabei gefühlt?

Tierra: An dem Abend der Abschiebung war sehr viel Wut und Trauer zu spüren. Es waren nicht nur wir, die mit ihnen auf eine Schule gingen, von ihrem Schicksal berührt, sondern auch Menschen, die sie gar nicht kannten. Und es war natürlich komplett frustrierend, zu sehen,  dass die Entscheidung, die Mädchen und ihre Geschwister abzuschieben, eiskalt durchgezogen wurde. Wir waren alle komplett erschüttert und geschockt. Es gab sogar eine kurze Zeit, in der wir uns fühlten, als hätten wir alles komplett ohne Ergebnis gemacht. Aber das haben wir nicht. Wir haben viele Menschen aufgeweckt. 

Wenn es so weitergeht, schaut ihre Zukunft mehr als traurig aus“

Was meint ihr mit „aufgeweckt?

Theo: Allein an unseren Schulen wurden so viele Schüler*innen politisiert, sie setzten sich mit dem Thema auseinander und ein breiter öffentlicher Diskurs entstand in Österreich. Jetzt kann man nur hoffen, dass der Druck aufrecht erhalten wird, damit sich endlich etwas maßgeblich verändert. Die Asylgesetze müssen endlich menschenwürdiger werden.

Inwiefern?

Theo: Das Kindeswohl wird bei Abschiebungen kaum berücksichtigt. Ich möchte gerne eine Erklärung von den Verantwortlichen haben, wie es sein kann, dass ein Mädchen abgeschoben wird, das sein ganzes Leben in Österreich verbracht hat. Wieso hat so jemand keine Papiere? Sie ist ein Teil dieses Landes und ein Teil unserer Schule. Die Kindeswohl-Kommission wurde auf Grund des Protests gegen die Abschiebungen eingesetzt, um in Zukunft besser überprüfen zu können, ob das Kindeswohl bei allen Entscheidungen berücksichtigt wird. Ich bin gespannt, was im ersten Bericht der Kommission rauskommt, der im Sommer veröffentlicht wird.

Wo sind Tina und Sona gerade, wie geht es ihnen und was machen sie?

Tierra: Sona kann leider im Moment nicht am Online-Unterricht teilnehmen, weil sie in Armenien arbeiten muss. Sie und ihr Bruder können nicht in die Schule gehen. Wenn es so weitergeht, schaut ihre Zukunft mehr als traurig aus. Sie werden alles verlieren, was sie in ihren Ausbildungen in Österreich gelernt haben. Ihre weitere Bildung steht in den Sternen.  

Theo: Die Freund*innen von Tina sind über Social Media mit ihr in Kontakt.  Für Tina ist es extrem schwierig in Georgien am Unterricht teilzunehmen, da sie die Sprache nicht schreiben und lesen kann. Ich gehe aber davon aus, dass sie ihre Freund*innen, die Schule und einfach ihr Leben hier extrem vermisst. Österreich ist ihr Heimatland. 

Wenn man merkt, dass durch uns ausgelöst ein Diskurs entsteht, macht das extrem stolz“

Was sind eure nächsten Schritte? 

Theo: Seit Corona hat man das Gefühl, Gesetze können sich über Nacht verändern; warum nicht die Asylgesetze? Wir wollen jetzt unser Netzwerk ausbauen, alle österreichischen Schulen, und auch Berufsschulen und NGOs, ins Boot holen. Im Moment findet unsere Vernetzung über die sozialen Netzwerke statt. Unsere Bewegung wird immer größer und wir hoffen, dass sich dadurch der Druck erhöht, bis sich die Gesetze ändern. Wir möchten, dass alle, die sich gerade in Ausbildungen befinden, vor einer Abschiebung sicher sind. Das muss im Gesetz stehen. Unsere Aufgabe ist es, auf diese Probleme aufmerksam zu machen. Natürlich sind wir auch dran, Tina und Sona zurückzuholen. Die gesamte damit verbundene Arbeit liegt aber jetzt in den Händen eines Anwalts. Da sind wir in die Vorgänge nicht involviert. Rechtlich gesehen können wir mit unseren Möglichkeiten nicht helfen. 

Meint ihr, der Preis hilft eurem Vorhaben, die Mädchen zurückzuholen? 

Theo: Ja, auf jeden Fall. Der Preis hat die Medien wieder auf uns aufmerksam gemacht. Das ist gut und wichtig. Zuvor war es eine ganze Weile sehr still. Das Gefühl, dass man Leute erreicht und dass die unterschiedlichsten Menschen mit uns aufstehen, gibt mir enorm viel Kraft. Wenn man merkt, dass durch uns ausgelöst ein Diskurs entsteht, macht das extrem stolz. Es motiviert mich, weiter zu kämpfen.

Tierra: Der Preis hilft, das Thema wieder medial präsenter zu machen. Es ist auch ein super Zeichen für uns Jugendliche. Wir werden gehört und ernst genommen. Ich glaube auch, dass dieser Preis vielen Menschen das Gefühl gibt, eine Stimme zu haben, die auch gehört wird. Viele merken, es bringt etwas aufzustehen und aktiv zu werden, weil die Leute hinschauen und man dadurch etwas bewirken kann. 

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