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„Und ihr dachtet, sich hinzuknien sei zu viel?“

Viele der Aktivist*innen trugen die US-amerikanische Flagge vor sich her, und doch war die Aktion alles andere als patriotisch.
Foto: imago images

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Die Bilder wird so schnell niemand vergessen können: Am Mittwochabend deutscher Zeit haben Trump-Anhänger*innen das Kapitol in Washington gestürmt. Während in dem bedeutsamen Gebäude eigentlich Joe Biden vom Kongress als neuer Präsident bestätigt werden sollte, randalierte die Menge: Scheiben wurden eingeschlagen, Büros verwüstet, Wände beschmiert, die Eindringlinge lieferten sich Schlägereien mit den Sicherheitskräften. Erst nach mehreren Stunden hatten alle nicht berechtigten Personen das Gebäude verlassen, die Sitzung konnte fortgesetzt und schließlich die Wahl Bidens offiziell bestätigt werden. Die Polizei gibt bekannt, dass 52 Personen festgenommen wurden. Vier Personen kamen im Zusammenhang mit dem Sturm auf das Kapitol ums Leben, zumindest eine davon starb durch einen Schuss in die Brust. 

Die Aktion gilt als schwerer Angriff auf die Demokratie. Gleichzeitig reagierten die zuständigen Behörden internationalen Beobachter*innen zufolge unangebracht gelassen. 

Auch in den USA zeigten sich viele schockiert und irritiert über die mangelnde Entschlossenheit, mit der von staatlicher Seite gegen die mehrheitlich weißen Trump-Anhänger*innen vorgegangen wurde – gerade im Vergleich dazu, wie mit den „Black Lives Matter“-Protestierenden im vergangenen Jahr umgegangen wurde. „White Privilege“ stecke hinter dem doppelten Standard, vermuteten viele. Besonders häufig wurde dabei ein Bild geteilt, auf dem ein massives Sicherheitsaufgebot während der „Black Lives Matter“-Proteste zu sehen ist. Allerdings wurde das Foto nicht am Kapitol aufgenommen, wie in vielen Posts behauptet wird, sondern am etwa drei Kilometer entfernten Lincoln Memorial.

Auch Medienvertreter*innen kritisieren das Vorgehen in diesem Kontext. CNN-Kommentator Van Jones verlangte etwa noch während der Live-Berichterstattung, dass Konservative und Republikaner sich diese Frage stellen sollten: „Was würde ich tun, wenn Black Lives Matter 30 000 Schwarze Menschen zur Hauptstadt der Nation geschickt und sie den Sitz der Macht belagert hätten – während einer Sitzung des Kongresses?“ Auf Twitter griffen viele diesen Gedanken auf, gerade im Zusammenhang mit Bildern, die die Eindringlinge offenbar feixend im Sitzungssaal auf dem Stuhl des Vorsitzenden zeigen.  

Die „Black Lives Matter“-Organisation äußerte auf Twitter eine ähnliche Interpretation: „Täuscht euch nicht, wenn die Protestierenden Schwarz gewesen wären, wäre uns mit Tränengas begegnet worden, wir wären verprügelt worden, und vielleicht auch erschossen.“ Insbesondere auch die Sportwelt reagierte betroffen darauf, dass die US-Behörden offenbar mit zweierlei Maß messen und damit rassistisch handeln. Viele Sportler*innen, darunter die Fußballerin Megan Rapinoe, retweeteten etwa Bilder des knienden Colin Kaepernick und stellten sie denen der plündernden und randalierenden Personen im Sitz des Kongresses gegenüber: 

Der ehemalige Footballspieler Kaepernick hatte sich 2016 aus Protest gegen rassistische Polizeigewalt wiederholt geweigert, während der Nationalhymne zu stehen und dadurch nicht nur seinen Job verloren, sondern auch den US-Sport politisiert. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu heftigen Diskussionen, weil Sportler*innen sich für Schwarze oder andere Minderheiten in den USA öffentlich starkmachten. 

Am Mittwoch knieten vor einem Basketballspiel wieder Spieler beim Abspielen der Nationalhymne vor der Partie. Zudem veröffentlichten die Spieler der Boston Celtics und von Miami Heat eine gemeinsame Stellungnahme. „Der drastische Unterschied zwischen der Art, wie Demonstranten im vergangenen Frühjahr und Sommer behandelt wurden, und der Ermunterung für die Demonstranten heute, die illegal gehandelt haben, zeigt, wie viel Arbeit wir noch vor uns haben“, heißt es darin. Auch die größte Bürgerrechtsorganisation, die sich in den USA gegen Rassismus und für Gleichberechtigung einsetzt, die NAACP, twitterte über die Ungerechtigkeit: „Und ihr dachtet, sich hinzuknien sei zu viel?“

In einer Presseerklärung fordert die Organisation außerdem einen erneuten Versuch für ein Impeachment, also ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump, der seine Unterstützer*innen im Vorhinein angestachelt hatte. 

Was in diesen dunklen Stunden in Washington tatsächlich passiert ist und weshalb es so lange gedauert hat, bis das Kapitol geräumt war, wird in den kommenden Tagen noch aufgearbeitet werden müssen. Am 20. Januar wird Biden vereidigt, inwiefern die Ereignisse vom 6. Januar die Sicherheitsvorkehrungen für diesen Tag beeinflussen werden, ist nicht bekannt.

mpu mit Material der dpa

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