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Warum es immer noch einen Orgasm-Gap zwischen Männern und Frauen gibt

Foto: fizkes / Adobe Stock; Bearbeitung: jetzt

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Sexuelle Befreiung braucht Zeit – und wann hatte man in den vergangenen Jahren schon so viel davon wie während dieser globalen Pandemie, in der alles geschlossen und abgesagt ist und Dating und Gelegenheitssex nicht die beste Idee sind? Anscheinend haben entsprechend viele Frauen den Leerlauf der Corona-Monate genutzt, um mit sich selbst Sex zu haben oder sich zumindest mit ihrem Sex auseinanderzusetzen. Das legt zumindest ein Blick auf die Nutzungszahlen bestimmter Masturbations-Apps nahe.

Der Orgasm Gap beschreibt, dass Männer und Frauen bei heterosexuellem Sex unterschiedlich häufig zum Orgasmus kommen

Andrea Oliver ist CEO und Mitgründerin von Emjoy, einem „Audioguide für intimes Wohlbefinden“ für Frauen. Die App funktioniert wie eine Meditations-App mit geführten Audio-Kursen, „Challenges“ und „Journeys“ – nur eben für Orgasmus-Training und mit Audiopornos. Oliver sagt, die Zahl der weltweiten Nutzer*innen der App habe sich seit Beginn des globalen Lockdowns Mitte März auf 150 000 verdreifacht. Sie erklärt das damit, dass viele in der Zeit der Isolation von ihren Sexualpartner*innen getrennt waren und daher neue Wege der Selbstbefriedigung und Selbstliebe erkundet haben. Aber warum braucht es eine Orgasmus-Trainings-App überhaupt? Wegen der Orgasmus-Ungleichheit, sagt Oliver.

Der Orgasm Gap beschreibt, dass Männer und Frauen bei heterosexuellem Sex unterschiedlich häufig zum Orgasmus kommen. Laut einer Studie der International Academy of Sex Research aus dem Jahr 2017 kommen 95 Prozent der heterosexuellen Männer beim Sex immer oder meistens zum Orgasmus, aber nur 65 Prozent der heterosexuellen Frauen. (Anmerkung der Redaktion: Es gibt bisher keine Studien über die Orgasmus-Lücke bei trans Personen. Daher sind in diesem Text, wenn es um „Frauen“ und „Männer“ geht, cis Frauen und cis Männer gemeint.) Warum gibt es diese Ungleichheit bei heterosexuellem Sex – und was kann man gegen sie tun?

Wenn man etwa an den Sexualkundeunterricht oder gängige Porno-Genres denkt, ist der Grund für den Orgasm Gap recht offensichtlich: eine gesellschaftliche Überbetonung des männlichen Orgasmus. Im Aufklärungsunterricht geht es um „Samenergüsse“ und dass sie zum Sex dazugehören. Der weibliche Orgasmus? Findet nicht statt. Pornos enden meist damit, dass der Mann irgendwohin kommt. Ob die Frau gekommen ist? Egal. Die gängige Erzählweise: Männer kommen halt – für Frauen ist der Orgasmus dagegen angeblich nicht so ein Thema und, wenn überhaupt, dann wird der weibliche Orgasmus als super schwierig zu erreichendes Mysterium dargestellt. Das ist eine sehr männliche Perspektive, die Männer außerdem aus der Verantwortung lässt.

Er muss kommen und wenn er nicht kommt, zweifeln viele Frauen an ihrer „Leistung“

Wenn es beim Sex nicht darum geht, Kinder zu bekommen, sind beide Orgasmen (von den ganzen schönen Nebeneffekten abgesehen) gleichermaßen funktionslos. Trotzdem scheint die Abwesenheit des männlichen Orgasmus die Ausnahme zu sein, die Abwesenheit des weiblichen Orgasmus die Regel. Er muss kommen und wenn er nicht kommt, zweifeln viele Frauen an ihrer „Leistung“. Wenn sie selbst nicht kommen, zweifeln sie an sich selbst. Oder sie nehmen den Orgasmus-Gap als gegeben hin, weil zu selten jemand sagt, dass ihr Orgasmus genauso wichtig ist wie der des Mannes. Und wenn niemand darüber spricht, traut sich auch niemand, darüber zu sprechen. Aber wenn man dann doch mal fragt, ergeben die Orgasm-Gap-Zahlen irgendwie wieder Sinn:

Da ist zum Beispiel die Freundin, die sagt, bei dem Mann, mit dem sie gerade schlafe, komme sie zwar nicht, aber ihr sei das auch nicht so wichtig. Oder der Freund, der erzählt, dass er mal nicht gekommen ist, die Frau aber schon und sie irgendwo zwischen verwirrt und besorgt reagierte, obwohl es sie die anderen Male, als es andersherum war, nie gestört hat. Oder die andere Freundin, die lange keinen Orgasmus hatte und ihre Frauenärztin fragte, ob anatomisch „alles okay“ bei ihr sei. Und natürlich war alles okay bei ihr und trotzdem überwies die Frauenärztin sie an eine Psychologin.

In der Wissenschaft gibt es verschiedene Theorien darüber, warum Frauen überhaupt Orgasmen haben. Die amerikanische Biophilosophin Elisabeth Lloyd beschreibt in ihrem Buch „The case of the female orgasm“ den weiblichen Orgasmus als funktionsloses Überbleibsel der fötalen Entwicklung, in etwa so wie die Brustwarzen bei Männern. Eine andere Theorie aus der Evolutionsbiologie von Mihaela Pavlicev und Günter Wagner geht davon aus, dass sich die Klitoris unserer Vorfahrinnen in der Vagina befand und der Orgasmus für den Eisprung notwendige Hormone freisetzte. Als Frauen dann mehr Zeit in sozialen Gruppen verbrachten, habe sich ein monatlicher Zyklus eingestellt, sodass nicht mehr bei jedem Sex ein Ei freigesetzt wurde. Die Klitoris habe sich daraufhin von ihrer ursprünglichen Position in der Vagina nach „außen“ bewegt. Der Orgasmus ist geblieben, der Weg zu ihm nicht.

Wenn wir von „Sex“ sprechen, meinen wir meistens nur penetrativen Sex

Die Sexualpsychologin Laurie Mintz schreibt in ihrem Buch „Becoming Cliterate“, die Orgasmus-Ungleichheit liege auch an dem Mythos, dass Frauen durch penetrativen Sex allein zum Orgasmus kommen, also der Überzeugung, dass der Penis ausreichend sei, damit eine Frau kommt. Tatsächlich brauche die Mehrheit der Frauen (zusätzliche) klitorale Stimulation. Mintz kritisiert dabei auch unsere Sprache: Wenn wir von „Sex“ sprechen, meinen wir meistens nur penetrativen Sex. Alles andere nennen wir „Vorspiel“ – so, als sei es nur die Vorbereitung für die eigentliche Sache.

Es gibt also nicht nur eine „Lücke“ bei der Anzahl der Orgasmen von Frauen und Männern, sondern auch eine zwischen dem, wie Frauen am häufigsten kommen und dem, was üblicherweise als Sex verstanden wird. Das hört man auch, wenn man sich traut zu fragen: Freundinnen, die sagen, dass sie bei der (klitoralen) Selbstbefriedigung innerhalb von fünf Minuten kommen. Oder Freundinnen, die erzählen, wie wenig es ihren Partnern beim Sex um das geht, was sie zum Orgasmus bringt. Und dass sie sich auch irgendwie nicht so recht trauen, genau das zu sagen und einzufordern. Warum nicht? Vermutlich, weil zu selten jemand sagt, dass das nicht okay ist und keine Frau diese Ungerechtigkeit einfach aushalten sollte.

Interessanterweise nähert sich die Orgasmus-Häufigkeit bei gleichgeschlechtlichen Paaren an

Laurie Mintz schreibt, um den Orgasm-Gap zu schließen, müssten Frauen ihren Körper und ihre Orgasmen verstehen und anfangen, Orgasmen auch bei ihren (Sex-)Partnern einzufordern. Andrea Oliver sagt, sie habe Emjoy gegründet, um „Frauen zu empowern, ihre sexuellen Bedürfnisse zu verstehen, anzunehmen und auch zu äußern“. Und das ist schön und nervig zugleich, weil natürlich sollen Frauen genauso viele Orgasmen haben wie Männer, aber warum sind eigentlich schon wieder nur die Frauen dafür zuständig?

Interessanterweise nähert sich die Orgasmus-Häufigkeit bei gleichgeschlechtlichen Paaren an: Laut der Studie der International Academy of Sex Research kommen 89 Prozent der homosexuellen Männer immer oder meistens zum Orgasmus und 86 Prozent der homosexuellen Frauen. Als mögliche Gründe nennen die Autor*innen der Studie, dass lesbische Frauen ein besseres Verständnis weiblicher Lust haben und seltener als heterosexuelle Männer glauben, penetrativer Sex führe automatisch zum Orgasmus. Außerdem sei bei lesbischem Sex das Bewusstsein für Orgasmus-Gleichheit größer und es gebe häufiger eine „Kultur der Abwechslung“, bei der sich die Frauen nacheinander gegenseitig befriedigen.

Der Orgasm-Gap ist also gleichermaßen ein Frauenproblem wie ein Männerproblem und für die Lösung braucht es die Mitarbeit der Männer: Der Freund, der nicht kam, seine Partnerin aber schon, habe ihr versichert, dass das total okay ist. Und es ist es auch total okay, mal nicht zu kommen – die Erwartung, immer kommen zu müssen, kann auch Männer unter Druck setzen. Aber es ist eben nicht okay, wenn Frauen deutlich seltener oder nie kommen.

Nun, wie kriegt man das jetzt zusammen hin? Erstens, und die diese Erkenntnis ist wichtig: Frauen sind genauso orgasmusfähig wie Männer. Sie kommen allerdings anders als Männer  – und über dieses Wie muss man reden. Zweitens muss man aufhören, vom „Mysterium“ weiblicher Orgasmus zu sprechen oder von der „Kunst“, eine Frau zum Kommen zu bringen. Drittens: Dafür sollte man nicht mehr nur das, was Männer zum Orgasmus bringt, als „Sex“ bezeichnen, sondern auch das, was Frauen kommen lässt. Und viertens: üben.

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