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„Neuerdings verhungern im Winter immer wieder Tiere“

Einige Hirt:innen mussten die Arbeit bereits aufgeben, Anders möchte weiterhin mit den Rentieren arbeiten.
Foto: Ina-Theres Sparrok; Bearbeitung: SZ Jetzt

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Die Auswirkungen der Klimakrise bedrohen die Lebensgrundlage von Menschen weltweit. An manchen Orten sind die Folgen schon heute besonders zu spüren. In den Klimatagebüchern berichten Menschen davon, wie sich das Leben in ihren Regionen durch die Klimakrise verändert. 

In der dritten Folge berichtet Anders Baer, 27, aus Schweden davon, wie die Klimakrise die traditionelle Lebensweise der Sámi bedroht. Anders lebt in Dikanäs, einem kleinen Dorf in Nordschweden. Er ist Rentierhirte und gehört der indigenen Gemeinschaft der Sámi an. Gemeinsam mit Kolleg:innen hütet er rund 11 000 Rentiere, deren Fleisch sie im ganzen Land verkaufen. Doch der Klimawandel bringt das Wetter durcheinander und gefährdet das Überleben der Tiere im hohen Norden Europas – und damit auch die traditionelle Lebensweise und die Identität der Sámi. 

„Die Jahreszeiten haben sich verschoben: Im Herbst fängt es mittlerweile erst viel später an zu schneien, und im Frühjahr liegt der Schnee in den Bergen deutlich länger. Manchmal können wir sogar im Juni noch mit dem Schneemobil fahren, das ist verrückt. Die größten Veränderungen bemerke ich im Herbst und im Winter. In meiner Kindheit lag in den Herbstferien Ende Oktober immer Schnee – heute nicht mehr. Und wenn es schneit, regnet es direkt danach und der Schnee schmilzt. Insgesamt steigen die Temperaturen.

Für uns als Rentierhirt:innen sind abrupte Temperaturstürze und -anstiege im Winter das größte Problem. Denn sie wirken sich vor allem auf die Hauptnahrungsquelle der Rentiere während der kalten Jahreszeit aus: Flechten. Flechten sind Lebensgemeinschaften aus Pilzen und Algen, die auf verschiedenen Untergründen wachsen können, häufig auf Bäumen und Steinen. Die Flechten, die für die Rentiere so wichtig sind, finden sich vor allem am Boden. Wenn es im Winter plötzlich warm wird, oder es auf den Schnee regnet, taut die unterste Schneeschicht auf. Wird es dann wieder kalt, friert die Schicht direkt über dem Boden zu, sie wird zu einer harten, blauen Eisschicht.

Vor einigen Wintern war das Eis so dick, dass wir es nicht einmal mit Schaufeln aufbrechen konnten. Und in genau dieser Schicht befinden sich die Flechten. Da kommen die Rentiere kaum ran. Sie finden die Nahrung auch schlechter, weil sie sie im Eis nicht so gut riechen können wie im Schnee. Außerdem werden die Flechten so von einer Energiequelle zu einem Energieverbraucher: Denn die Rentiere müssen das Eis im Körper schmelzen, wodurch der Körper auskühlt. Zudem gehen viele Nährstoffe durch den Gefriervorgang verloren.

Wenn Eis in die Flechten gelangt, ist der Winter für uns gelaufen. Neuerdings verhungern immer wieder Tiere im Winter. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass so etwas früher vorgekommen wäre. Um unsere Tiere über den Winter zu bringen, müssen wir in solchen Fällen Heu kaufen. Das ist etwas Neues für uns Rentierhirt:innen. Mein Großvater musste so etwas nicht machen. Das kostet uns zum Teil mehr als wir mit der Rentierzucht verdienen. Einige Hirt:innen müssen ihre Arbeit deswegen aufgeben, auch das kam früher nicht vor. Wenn im Dezember schon zehn bis 20 Zentimeter Schnee liegen, denke ich oft: ‚Bitte lass es nicht regnen.‘ Dieses Jahr haben wir einen guten Winter, aber das kann sich mittlerweile so schnell ändern, dass wir nie wissen, was uns noch erwartet.

Unsere Rentiere sind im Sommer in den Bergen, im Westen an der Grenze zu Norwegen. Im Herbst bringen wir sie mit Trucks runter in die Wälder an der Ostseeküste. Dort verbringen wir den Winter mit ihnen und im Frühling ziehen wir dann wieder in die Berge. Wir begleiten sie auf Schneemobilen und manchmal auch mit dem Helikopter. Probleme gibt es nicht nur durch die Klimakrise, sondern auch durch die Forstindustrie: Dort, wo viele Bäume gefällt werden, schmilzt der Schnee schneller und wir können die Herden schlechter zusammenhalten, da die Tiere sich dann freier bewegen. Es ist außerdem schwierig, mit den Schneemobilen vorwärtszukommen, wenn zu wenig Schnee liegt. Früher ließen die Hirt:innen in einem schlechten Winter die Tiere frei in den Wäldern herumlaufen, wo sie viele Baumflechten fanden – aber die Holzindustrie fällt so viele alte Bäume, auf denen die Flechten wachsen, dass es heute kaum mehr welche gibt. Hinzu kommt: Für die Tiere ist es viel schwieriger, wenn Tag und Nacht höhere Temperaturen herrschen, weil damit der Schnee weicher ist und sie einsinken. Sie schaffen keine langen Distanzen und werden viel schneller müde.

Wir müssen unsere Routen mit den Rentieren mittlerweile oft ändern, weil das Wetter nicht so mitspielt, wie wir es bräuchten. Es gibt zum Beispiel den See Vojmsjö, der im Winter normalerweise immer zufror. Wir gingen mit den Rentieren über das Eis, das war der kürzeste Weg. Es dauerte trotzdem einen ganzen Tag. Mittlerweile friert der See nur noch selten zu und wir müssen außen herum gehen. Für uns Hirt:innen ist es nicht so schlimm, die Routen anzupassen. Aber es stört den natürlichen Rhythmus der Tiere: Sie können den Weg nicht mehr selbst finden wie früher. Sie sind verwirrt und gehen dann manchmal in Richtung Süden, anstatt in Richtung der Berge. Oft schließen sie sich dann der falschen Rentierherde aus einer benachbarten Hirtengemeinde an, und wir müssen sie wieder einfangen.

Ich bin häufig pessimistisch, weil ich nicht sehe, wie wir das alles aufhalten sollen. Wenn es so weitergeht, werden die Winter wirklich hart für uns. Die Temperaturen in der Arktis steigen schon jetzt viel schneller als anderswo – für uns wird es schwierig, sich daran anzupassen. Und trotzdem glaube ich, dass wir Sámi besser als andere für den Klimawandel gerüstet sind. Denn wir mussten uns schon immer an Klima und Wetter anpassen. Moderne Technik, Smartphones und immer bessere Schneemobile erleichtern uns die Umstellung. Außerdem versuchen wir, zeitlich flexibel zu sein: Im Frühjahr warten wir bei schlechten Wetterbedingungen, bis es besser wird und wir mit den Tieren weiterziehen können.“

Mehr Informationen zu den Auswirkungen der Klimakrise auf Nordeuropa:

Die indigene Volksgruppe der Sámi lebt verteilt über den Norden Norwegens, Schwedens, Finnlands und in Teilen von Russland. Die Region wird als Sápmi bezeichnet. Die Rentierzucht ist seit Jahrhunderten Teil der traditionellen samischen Lebensweise. In Schweden leben heute noch etwa 5000 Sámi von der Rentierzucht, in Schweden und Norwegen leben etwa 250 000 der halbdomestizierten Tiere. Rentiere zu züchten ist in Schweden ein exklusives Recht der Sámi. Im Vergleich zur vorindustriellen Zeit ist nördlich des 65. Breitengrads schon heute ein Temperaturanstieg von zwei bis drei Grad Celsius zu verzeichnen – doppelt so viel wie im globalen Durchschnitt. In der Arktis hat sich die Temperatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts bereits vielerorts um fünf Grad Celsius erhöht. Der weltweite Temperaturanstieg liegt laut Weltorganisation für Meteorologie derzeit bei etwa 1,2 Grad Celsius.  

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