Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

In Schieflage

Unser Autor fordert, die Techno-Szene muss diverser werden.
Illustration: FDE

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Triggerwarnung: In diesem Text geht es auch um sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung sowie Rassismus. 

Die Fernsehkamera überfliegt endlose Menschenschlangen vor den Krankenhäusern von Manaus. Leichensäcke flackern über den Bildschirm. Bagger reißen tiefgaragengroße Löcher in den Urwaldschlamm vor den Toren der brasilianischen Stadt, weil Friedhöfe nicht mehr reichen. Ich schalte ab, scrolle durch Instagram. Superstar-DJs mit Superstar-Gagen posten Videos von Partys an karibischen Stränden, von Tanzenden ohne Masken. Ein Bekannter aus dem Nachtleben schreibt, er wäre für eine Rooftop-Party in Tulum gebucht. Er fliege „da runter“. Corona halte er für „halb so wild“. Ich schalte auch das Smartphone ab. Warum ist die Techno-Szene in der Pandemie so beschissen selbstsüchtig?

Seit Jahren lege ich auf, seit Jahren veranstalte ich Partys. Ich kenne die DJs und das Business. Der Egoismus des Techno, die Abhängigkeit ärmerer Länder vom Tourismus auszunutzen, das hat System. Dieser libertär tönende, doch turbokapitalistische Egotrip, den manche in Ländern wie Mexiko oder Tansania ausleben, ist kein Ausrutscher. Die moralische Schieflage der Szene lässt sich 2021 nicht mehr übersehen: Plague Raves, die „Schlauchboot-Demo“ vor dem Urban-Krankenhaus, der Support des Boiler Room für die BDS-Kampagne, die „Spannervideos“ vom Fusion Festival. Corona-Schwurbelei, Antisemitismus, Sexismus. Alles da, alles scheiße. Wir DJs, wir Booker*innen, wir Clubbesitzer*innen müssen jetzt, ja jetzt in der Pandemie, die Zeit nutzen und das aufarbeiten.

Wer Macht missbraucht, muss rausfliegen

Real Talk: Die „Spannervideos“ waren kein Zufall. Sexismus und sexualisierte Gewalt haben wir in unseren Reihen zu lange geduldet und zu lustlos bekämpft. Ja, Fälle wie der der DJs Erick Morillo und Derrick May, denen 2020 mehrere Frauen Vergewaltigungen vorgeworfen haben, haben uns erschüttert. Aber es ist an der Zeit, anzuerkennen, dass das keine Einzelfälle sind. Eine Recherche von FrohFroh, einem Leipziger Online-Magazin für elektronische Musik, schilderte im Februar 2021 die Strukturen hinter Sexismus und sexuellen Übergriffen in der subkulturellen Leipziger Clubszene. Täter: Männer. Der Text arbeitet heraus, dass Kollektive ihre Freunde decken –sogar wenn die beschuldigt werden, jemanden vergewaltigt zu haben.

Und nein, wir dürfen nicht mehr tolerieren, wenn unser Booker-Kumpel der weiblichen DJ einen Spruch drückt oder der Superstar-DJ eine Teenagerin mit Drinks vollpumpt und auf sein Hotelzimmer nehmen will. In der Pandemie können wir fix flächendeckend Awareness-Teams in Clubs installieren, wie es das „Mensch Meier“ in Berlin vormacht. Nein, boys will not be boys. Wer Macht missbraucht, muss rausfliegen. Und natürlich müssen wir auch über gendergerechte Line-Ups sprechen: Alle Jahre diskutiert Deutschland über Non-Sense wie die Quote für deutschsprachige Musik im Radio, aber nie über eine Frauenquote für Festivals. 2021, im Ernst?

Mit einer Frauenquote wäre es für mich nicht einmal getan. Denn was weiße DJs nicht über Rassismus hören wollen: In Deutschland heißt Techno meistens weißer Dancefloor, weißes Line-Up. Ich schreibe diesen Text als weißer DJ, der in zehn Jahren nicht eine nicht-weiße Clubbesitzer*in oder Veranstalter*in und selten Schwarze oder BIPoc-DJs auf Partys angetroffen hat. Das hat viele Gründe. Oft beginnt das Problem schon bevor die Party beginnt: Racial-Profiling. Klingt hart, aber die Antidiskriminierungsstelle des Bundes habe in den vergangenen Jahren in 530 Fällen wegen Diskriminierung vor Berliner Clubtüren juristisch beraten, schreibt Hasan Gökkaya in der Zeit. Die Dunkelziffer liegt höher. Dabei ist die Rechtslage klar: Wer Menschen wegen ihrer vermeintlichen Herkunft oder ihrer Hautfarbe abweist, verstößt gegen das Allgemeine Gleichstellungsgesetz. Warum also nicht Türsteher*innen dafür endlich besser, sensibler schulen? Auch dafür wäre in der Pandemie Zeit.

Clubs müssen Schutzräume für alle sein 

Diskussionen um strukturellen Rassismus, wie ihn die Film-, oder Theaterbranche führen, müssen in die Clubkultur vordringen. Techno könnte neue Perspektiven einholen, demütig zuhören, lernen, Safer Spaces aufzubauen. Wir brauchen Line-Ups, die Schwarze Menschen und People of Colour fördern. Institutionen progressiver Clubkultur wie das ://about blank in Berlin und das Harry Klein in München leisten Aufbauarbeit, aber in der Breite wollen viele ihre Privilegien doch nicht aufgeben. Der ehemalige PR-Manager der Wilden Renate, Karim Molyneux-Berry, wurde jahrelang von Mitarbeiter*innen rassistisch beleidigt. Er sei unter anderem mit dem N-Wort bezeichnet worden, sagte er dem Online-Magazin Resident Advisor

Also ja, wir müssen uns ändern. Und ich sage das, weil ich die schönsten Stunden meines Lebens durch den Nebel eines Dancefloors geirrt bin. Weil ich Clubs liebe und wir sie als Schutzräume brauchen. Als weißer Cis-DJ kann ich mir nur vorstellen, wie sehnlich manche auf das Ende der Pandemie warten, wie heftig sie ihre Wochenenden im Stroboskoplicht vermissen. Aber ich ahne, wie sehr Menschen, die es in unserer Gesellschaft schwerer haben, diejenigen Zufluchtsorte fehlen, in denen sie dazugehören. Egal wo sie herkommen, wie sie aussehen, wen sie lieben. Wir könnten ein Vorbild für die Gesellschaft werden. Denn wir entscheiden, wessen Party wir nach der Pandemie mit Eintritt finanzieren, wessen Tracks wir kaufen, welche DJs wir buchen.

  • teilen
  • schließen