Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Warum es gefährlich ist, Daydrinking so übertrieben zu feiern

Illustration: FDE

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Viele zelebrieren, dass sie sich gerade nicht an die sozialen Konventionen von Uni oder Arbeitsplatz halten müssen. Kippe während der Zoom-Vorlesung? Check! Kind auf dem Schoß im Meeting? Check! Wein am Mittag und schnell mit dem Hashtag „#daydrinking“ in die Welt rausgeschickt? Check! 

 

Pandemiebedingt gibt es einen regelrechten Day-Drinking-Hype, bei dem weltweit Menschen ihren Suff mit den Einschränkungen des öffentlichen Lebens rechtfertigen: Freund*innen treffen fällt flach, Hochzeiten und Geburtstage sind vertagt, Bars dicht. Daher wird das Trinken offenbar auf das Trinken Zuhause mit sich selbst verlegt. Auf Instagram findet man unter dem Hashtag „daydrinking“ unzählige Fotos von schönen Menschen mit vollen Gläsern in der Hand – oft in Kombination mit dem Hashtag „#Quarantine“ oder „#Quarantäne“. 

 

Mittwochmittag als neuer Freitagabend

 

Ob man nun seinen Drink zumindest virtuell mit der Welt teilt oder nicht – meistens wird alleine getrunken, auf dem Sofa oder wahlweise auf dem Schreibtischstuhl sitzend vor dem Bildschirm. Das größte deutsche Marktforschungsinstitut GfK hat herausgefunden, dass seit der Corona-Krise   in Deutschland ein Drittel mehr Wein und klare Spirituosen als im Vorjahr über die Ladentheken gingen. Die Bars und Kneipen sind gerade geschlossen, was diese Zahlen teilweise erklärt. Die Statistik weist darauf hin, dass Menschen aktuell mehr Alkohol zuhause konsumieren als im Vorjahr. Der Alkoholkonsum bindet sich nun nicht mehr an einen Anlass oder an eine feste Tageszeit, sondern ist Teil der aktuellen, neuen Realität von Social Distancing. 

 

In meiner Familie gibt es eine Person, die schon vor der Pandemie alleine zuhause tagsüber Rotwein gesoffen hat und die seit über zehn Jahren gegen ihre Krankheit kämpft: Sie ist trockene Alkoholikerin.

 

Von Hoffnung zu Sucht

 

Ich nenne sie einfach mal Anna. Der Alkoholismus schlich sich in ihr Leben, als sie Anfang 30 und frisch geschieden war, zudem hatte sie Geldprobleme. Sie fing neben ihrem Bürojob an, in einer Kneipe zu jobben – hoffte, durch die Verbesserung der finanziellen Situation ihr Leben in den Griff zu bekommen. In der Bar fand Anna damals „Freunde“, trank ein Glas nach ihrer Barschicht mit den Stammkund*innen. Im Laufe der Zeit wurden die Abende länger und es blieb nicht bei einem Glas. Zunächst sah das niemand problematisch, doch im Laufe der Zeit schlich sich der Alkohol als regelmäßiger Begleiter ein. Sie wurde in einen Strudel gezogen. Später, nachdem ihre Tochter aufhörte, mit ihr zu sprechen und sie ihren Führerschein verlor, fing sie eine Therapie an. 

Wenn man erst einmal in der Sucht feststeckt, kommt man schwer wieder raus. Neben Therapie hilft ein stabiles soziales Netzwerk. 

Ich bin Teil dieses Netzwerks. Anna ist eine Familienangehörige, die mir sehr nahe steht. Die aktuelle Isolation macht es sowohl ihr als auch mir schwer, den Rückfällen entgegenzuwirken. 

 

Ich brauche nicht vor ihr zu stehen, um zu merken, wann die Krankheit wieder einmal stärker war als sie: Es reichen ein Anruf und ungefähr zwei Sätze. Ihre Stimme ist dann ein wenig tiefer, manchen Worten gibt der Alkohol eine andere Betonung, andere lässt er verschmelzen. Ich frage sie in einer solchen Situation, ob sie getrunken hat und versichere ihr, dass ich nicht direkt wieder auflegen werde. Die Bestätigung schmerzt dennoch jedes Mal: „Ja, ich habe getrunken ...“ Obwohl ich sie dann am liebsten anschreien würde, sage ich dann stattdessen sanft und ruhig: „Wann triffst du deinen Therapeuten wieder?“ „Morgen“, sagt sie.

 

Das Bier vor vier nicht unterschätzen

 

Aktuell studieren und arbeiten viele von Zuhause aus, sind damit beschäftigt, sich neue Routinen zu schaffen, da die alten nicht mehr funktionieren. Das Problem von Day Drinking in Zeiten von Corona ist nicht, dass man sich mal einen Absacker genehmigt. Es liegt vielmehr darin, dass Isolation, Ängste, Langeweile und fehlende Routinen begünstigen, dass es nicht bei dem einen Drink bleibt – sich Spaß und Ausnahme im schlimmsten Fall zu Regelmäßigkeit entwickeln, so ein neuer Alltag entsteht, in dem die Droge überhand nimmt. "Der Corona-Blues lässt sich nicht wegtrinken", mahnte der Direktor des Alkoholforschungszentrums an der Uni Heidelberg neulich im Spiegel. 

  

Was hingegen schon problematisch ist: Dass viele in den sozialen Medien es so hart feiern, sich zu Corona-Zeiten mittags anzuschwipsen. Das kann nämlich die, die suchtkrank sind, dazu motivieren, es ihnen gleich zu tun. 

Zudem sind Alkoholiker*innen Meister*innen des Ausreden-Findens – „Das machen doch gerade alle“ ist eine davon. Bei Anna war es eine Mischung aus fehlenden Routinen und fehlenden sozialen Kontakten, die dazu geführt hat, dass sie letztens mittags wieder getrunken hatte. Als ich sie nach einem Grund fragte, sagte sie: „Ich weiß einfach nicht, was ich sonst machen soll.“ Obwohl Anna noch arbeitet, brachen ihr Routinen weg, die ihr zuvor Halt gegeben haben: Der regelmäßige Besuch ihrer Eltern zum Mittagessen genauso wie der Austausch vor Ort in ihrer Selbsthilfegruppe bei den Johannitern.

Ein Selfie oder ein Tweet bildet nur einen Teil der Lebensrealität ab – meistens eine vermeintlich heile Welt. Wir alle mussten und müssen uns durch die Pandemie einen neuen Alltag schaffen, sollten uns aber bewusst fragen, was wir in diese Realität integrieren wollen, bevor sich etwas schleichend selbst integriert, das uns eigentlich schadet.

  • teilen
  • schließen