Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Meine Oma hat mich als migrantische Frau extrem geprägt

Illustration: FDE

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Meinen feministischen Kampfgeist verdanke ich meiner Oma. Sie hieß Stavroula, das ist ein altgriechischer Name. Und sie war selbst eine richtige Kämpferin, das zeigt auch ihre Lebensgeschichte: In den Vierziger Jahren ist sie im griechischen Bürgerkrieg als achtjähriges Mädchen mit ihrem zwei Jahre alten Neffen nach Bulgarien geflohen. Als eines der Partisanenkinder wurde sie von der DDR aufgenommen und landete in Dresden, wo sie sich und ihren Neffen aufzog und studieren konnte. Später war sie es, die arbeitete, mein Opa blieb zu Hause.

Meine Oma ist eine von vielen starken migrantischen Frauen aus dieser Zeit, die durch ihr eigenes Leben die der heutigen Migra-Frauen geebnet haben. Ob sie das jetzt bewusst oder nicht bewusst gemacht hat, auf jeden Fall war sie selbst, ihre Stärke und ihr Lebensweg auch für meine Mutter ein Vorbild – und für mich genauso. Meine Mama arbeitete nämlich als Chefsekretärin, ein Job, der sie unabhängig und frei machte – und den sie erst aufgab, als sie mich und meinen Bruder alleine und ohne Hilfe großziehen musste. Ich kenne keine Person, die selbstbewusster ist als meine Mama, und heute bin ich mir sicher, dass sie das dem Vorbild meiner Oma zu verdanken hat. 

Unsere weiblichen Vorfahren sind für uns Pionierinnen in einem neuen Land

Und so geht das eben nicht nur den Frauen in meiner Familie – sondern auch vielen anderen Frauen und Töchtern aus Migra-Familien. Unsere weiblichen Vorfahren sind für uns Pionierinnen in einem neuen Land, und haben uns gezeigt, wie man für ein besseres Leben und Eigenständigkeit kämpft.

Die Familie meiner Freundin Eleftheria etwa wurde 1923 vom Osmanischen Reich verfolgt und aus Pontos, einer Region aus der heute türkischen Schwarzmeerküste, vertrieben. Pontosgriechen wie sie mussten nicht nur um ihr Leben fürchten, sondern auch ihre Kultur unterdrücken, andere Namen und eine fremde Religion annehmen, um zu überleben. Um dem zu entgehen, flüchtete Eleftherias Urgroßmutter. „Ich liebe die Kraft, die unsere Mütter und Großmütter ausstrahlen. Wäre meine Urgroßmutter nicht geflohen, gäbe es uns heute nicht.“ Diese Frauen haben wie meine Oma gekämpft und unser Leben ermöglicht: Wir stehen praktisch auf ihren Schultern – aber sie bekommen dafür oft nicht die Anerkennung, die sie verdienen.  

Ja, natürlich haben auch die Männer geschuftet, damit es zukünftige Generationen einfacher haben, gerade Gastarbeiter. Das soll nicht verschwiegen werden. Aber von ihnen wird generell viel öfter berichtet, wenn es um die Migration der 50er und 60er Jahre geht. Und das, was spezifisch die Frauen erlebt haben, wird viel zu selten thematisiert. Meine Mama zeigte mir vor kurzem ein Video, in dem sich die Männer vor ihrer Abreise von ihren Familien verabschiedeten. Ich fragte mich, wie viel emotionale Kraft die Frauen damals eigentlich aufwenden mussten, als die Männer nach Deutschland gingen, um in Fabriken zu schuften. Und dann nochmal, als sie selbst schließlich mit Kindern nach Deutschland kommen mussten. 

Diese Frauen haben alles hinter sich gelassen und mussten in einem wildfremden Land Familien aufziehen. Dabei sprachen sie die Sprache nicht und litten unter finanziellen Problemen. Noch dazu wurden Migra-Familien als die Ausländer in deutschen Kreisen nicht akzeptiert, ausgeschlossen und rassistisch diskriminiert. Wenige fühlten sich dadurch in Deutschland wohl und suchten den Kontakt innerhalb anderer Migra-Familien. Als Folge bildeten sich oft eigene, kleine Gesellschaften, die sich abgrenzten, um Schutz zu suchen.

Ich persönlich bin für mein Alter schon recht weit gekommen, denke ich. Mein Studium werde ich früh und gut abschließen, mit einem Bein steh ich im Berufsleben. Gegen patriarchale Strukturen muss ich in meinem Leben trotzdem immer wieder ankämpfen: etwa mich gegen sexualisierte Übergriffe wehren oder sexistische Stereotype in der Arbeit überwinden. Und diese Strukturen umzugestalten benötigt Zeit und Kraft. Und ja, die schöpfe ich auch aus dem Kampfgeist der Frauen unserer Migra-Familien. Wir Töchter der dritten Generation sind mit dem liberalen unendlichen Internet aufgewachsen, das uns ganz neue Denkweisen eröffnet. Unsere Lust auf konservative Familien und Kinderplanung ist zwar vergangen, das bedeutet aber nicht, dass unsere konservativeren weiblichen Vorfahren keine Vorbilder für uns sein können. Viele meiner Freundinnen haben sich von den Erwartungen ihrer Familien freigeboxt – und ihre Mütter und Großmütter sind stolz darauf! 

Beide Töchte sollten, sobald sie erwachsen waren, verheiratet werden

So war das aber nicht immer. Die erste Generation der Migrant*innen war eben noch gezwungen, die Balance zwischen einer fremden Welt und den Werten der ehemaligen Heimat zu finden. Gerade in südlichen Ländern werden und wurden Frauen etwa meistens vermeintlich verehrt, dabei aber eher objektifiziert. Ihre Meinungen waren oft irrelevant, sie unterlagen den Machtstrukturen patriarchaler Familien, in denen der Schwiegervater das Sagen hatte – oder der Ehemann. Auch das fand bei meiner Familie statt: Anfang der 70er Jahre zogen meine Großeltern mit ihren Töchtern nach Köln, weil der Rest der Familie meines Opas dort lebte. Mama erzählt oft, dass Omi von einem auf den anderen Tag eine ganz andere Person wurde, weil der Rest der Familie sie eingrenzte.

Sie musste der Erwartung standhalten, die Kinder nach konservativen Idealen zu erziehen, damit Traditionen und Werte nicht verlorengingen. Darunter litten meine Mama und meine Tante; so mussten sie beispielsweise immer zu Hause bleiben, wenn mein Opa nicht da war und beide Töchter sollten, sobald sie erwachsen waren, verheiratet werden.

Auch meine Oma hat das geduldet. Dass ich dann trotzdem sage, dass sie so fortschrittlich ist, scheint paradox zu sein: Vor einem Krieg fliehen, in einem fremden Land studieren und eine Familie großziehen, nur um von der Sippe des Ehemannes eingeschüchtert zu werden? Ja – aber unsere Mütter und Großmütter wurden in diese Rollen gezwungen, weil sie sonst die sozialen Kontakte verloren hätten, die an Heimat erinnerten und ihnen Zuflucht boten. 

Unsere kämpferischen Omas haben uns die Basis für ein Leben gegeben, in dem wir unsere eigenen Freiheiten bestimmen können

Auch wenn viele dieser Mütter und Großmütter also noch immer misogyne Werte vertreten,  denen ich deutlich widerspreche (wie die Heirat eines „Landsmannes“ als Ideal), haben sie uns das Kämpfen vorgelebt. Ich verurteile sie nicht dafür, dass sie oft ihre erzwungene Rolle als Hausfrauen ausführten und patriarchale Strukturen so verstärkten. Sie haben uns so viel unserer Kultur mitgegeben, in einem Deutschland, das nichts von diesen fremden Kulturen sehen oder hören wollte. Unsere kämpferischen Omas haben uns jungen, migrantischen Frauen die Basis für ein Leben gegeben, in dem wir unsere eigenen Freiheiten bestimmen können. In dem wir in der Lage sind, uns selbst zu empowern. 

  • teilen
  • schließen