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„Ihr habt eine Stimme. Nutzt sie!“

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke / Foto: ProSieben/dpa

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Als ich mit 13 von einem maskierten Mann vergewaltigt wurde, fühlte ich mich danach noch jahrelang schuldig. Ich hatte ein pinkes Trägershirt getragen.

Heute bin ich 27. Mir ist vollkommen bewusst, dass das, was mir damals widerfahren ist, ein Verbrechen war, an dem ich keine Schuld trage. Ich habe gelernt damit umzugehen. Doch der Weg dahin war ein langer — und vor allem ein schweigsamer. Sexuelle Gewalt war in der öffentlichen Debatte lange Zeit kaum präsent. So wenig, dass ich lange gar nicht begriffen habe, was mir eigentlich angetan wurde.

Aus voller Überzeugung kann ich heute sagen, dass sich mein Bewusstsein radikal geändert hat — auch aufgrund dem immer dringlicherem Umgang mit dem Thema in den Medien und großartiger feministischer Arbeit. Vor einigen Tagen lief im Fernsehen „Männerwelten“, initiiert von Joko und Klass und „moderiert“ von Sophie Passmann. In diesen 15 Minuten wurde offen über sexuelle Gewalt an Frauen in verbaler und physischer Form gesprochen. Das Video wurde im Netz millionenfach geklickt und diskutiert. Auch ich diskutierte am Abend der Veröffentlichung lange mit meiner Mitbewohnerin darüber. Zweifellos haben diese 15 Minuten Sendezeit in mir viel ausgelöst. Aber die darauffolgenden öffentlichen Reaktionen noch viel mehr.

Wie auch bereits bei #metoo oder dem Cynthia-Nixon Video „Be a Lady They Said“, wurde auch „Männerwelten“ direkt kritisch hinterfragt. Im Allgemeinen ging es bei den Stellungnahmen viel um das Außenvorlassen bestimmter Personengruppen und die fragwürdige Trittbrfahrermentalität, mit denen Unternehmen sich bei dem Thema soziale Aufmerksamkeit holen.

Dabei sollte es aus meiner Sicht bei diesem Thema erstmal nicht direkt um richtig oder falsch gehen. Es sollte darum gehen, DASS irgendjemand den Mumm hat, in aller Breite und Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass sexuelle Gewalt in keiner ihrer Formen zulässig ist. Egal an wem. Nicht an (Trans*-)Männern, nicht an (Trans*)-Frauen, nicht an Menschen mit Behinderung, nicht an nicht-binären Personen, an keinem Menschen, egal welcher Hautfarbe oder welchen Alters. Denn jede*r leidet. Auf seine Art und Weise. Sexuelle Gewalt schmerzt nicht nur während sie einem zugefügt wird, sie hallt ein ganzes Leben lang in einem nach.

Wenn ich heute jemandem anvertraue, dass ich vergewaltigt worden bin, lese ich aus den Reaktionen vorrangig eines: Dankbarkeit.

Geändert hat sich im Laufe der Jahre auch nicht nur mein Bewusstsein darüber und mein Umgang damit, sondern auch die Sensibilität meines Umfeldes.

Wenn ich heute jemandem anvertraue, dass ich vergewaltigt worden bin, lese ich aus den Reaktionen vorrangig eines: Dankbarkeit. Dankbarkeit darüber, dass man offen über ein Thema spricht, das so viele Menschen auf dieser Welt betrifft und wiederum für viele andere vollkommen unbegreiflich scheint.

Eine schlaue Frau hat mal zu mir gesagt: Hör auf diese Gewalttat als Alptraum oder Geschichte zu bezeichnen. Denn es ist weder das eine noch das andere. Sie ist Realität und ihre Folgen sind für dich „Alltag“.

Auch darum geht es meiner Meinung nach: Nicht von Geschichten zu sprechen, die man mit Distanz betrachten kann. Wie Bücher, die man zuklappt und in den Schrank zurückstellt. Hinter diesen sogenannten Geschichten stecken Menschen, Gesichter und Körper, die versuchen damit so gut sie es können und so „normal“ wie möglich weiterzuleben. Es ist wichtig, dass jede*r einzelne sich frei genug fühlt, zu sagen: „Heute sind die Erinnerungen so stark, dass ich damit nicht allein sein kann.“ Und das ohne Scham, ohne das Gefühl zu haben Schwäche zu zeigen oder sich rechtfertigen oder verstecken zu müssen.

Ich bin kein Opfer. Ich will für das, was mir angetan wurde kein Mitleid und keine Scham, sondern Gerechtigkeit

Sexuelle Gewalt geht jeden etwas an. Denn es geht darum ein Bewusstsein zu schaffen, es geht darum Fragen zu stellen, die Augen offen zu halten und laut zu werden. Kein Beitrag gegen sexuelle Gewalt, keine Stimme, die laut wird, ist klein zu reden.

Es geht, wie es Margarete Stokowski in ihrem Buch „Untenrum frei“ auf den Punkt gebracht hat, um Ent-Opferung. Ich bin kein Opfer. Denn ich will für das, was mir angetan wurde kein Mitleid und keine Scham, sondern Gerechtigkeit. Ich will ein Bewusstsein, eine Offenlegung. Für alle und gegen sexuelle Gewalt an Menschen. Und ich traue mich zu sagen, dass ich damit für viele Betroffene spreche.

Jede Kritik an real Erlebtem erstickt die Stimme einer anderen Person, die sich nicht traut, sich zu öffnen, aus Angst vor eben jener Kritik. Und das ist, gelinde ausgedrückt, scheiße. Bei sexueller Gewalt gibt es auch keine Abstufungen. Kein Vergehen ist zu klein, um nicht darüber zu sprechen. Jedes Dick-Pic, jeder verbale Angriff, jede unangebrachte Berührung an einem Menschen ist ein gewaltiger Grund, die Stimme zu erheben, hinzusehen, einzuschreiten und zu reagieren. Nichts davon ist zu akzeptieren oder „war nicht so gemeint“.

Es ist enorm wichtig, dass die Aufmerksamkeit auf die Existenz sexueller Gewalt überall auf dieser Welt nicht abreißt. Videos wie „Männerwelten“ weisen nicht nur darauf hin, sie bewegen auch dazu zu sich zu öffnen und zu reagieren. Darum geht es im „Kampf“ gegen sexuelle Gewalt. Und so lange sie existiert, dürfen wir uns nicht mit der einfachen Aussage abfinden, dass es unmenschlich ist, dass sie immer noch stattfindet. In Unis, in privaten Haushalten, in Flüchtlingscamps, auf Dating-Apps, auf virtuellen Plattformen, auf dem Weg nach Hause, im beruflichen Mail-Postfach. Überall.

Ihr habt eine Stimme. Nutzt sie — für euch und für andere. Dann kann sich etwas verändern. Nein, dann wird sich etwas ändern.

*Die Autorin hat sich entschieden, diesen Text unter ihren Initialien zu veröffentlichen. Ihr voller Name ist der Redaktion bekannt.

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