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„Größere Gruppen sind immer noch ein ungewohnter Anblick“

Die Angst, etwas zu verpassen oder: JOMO, "Joy of missing out". Beides ist okay.
Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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So langsam kommt unser aller soziales Leben wieder in Schwung: Wir machen Picknicks, gehen Pizza essen und treffen uns, um gemeinsam Fußball zu schauen. Aber: Für viele von euch ist das alles gerade auch ziemlich stressig – das habt ihr uns auf Instagram erzählt. Zum Beispiel, dass ihr euch in größeren Gruppen immer noch unwohl fühlt und das schnell zu viel wird. Jetzt, wo man endlich wieder raus darf, will man manchmal lieber zuhause bleiben. Woher kommt das? Mit Hanna Christiansen, Professorin für Kinder- und Jugendpsychologie an der Philipps-Universität in Marburg, haben wir im Videocall über sozialen Druck und „Joy of missing out“, also die Lust am Verpassen, gesprochen.

jetzt: Treffen mit bis zu zehn Personen sind wieder erlaubt – danach haben sich viele von uns lange gesehnt. Aber viele Menschen beschreiben jetzt, dass sie sich in Gruppen unwohl und gestresst fühlen. Woran liegt das?

Hanna Christiansen: Wir leben seit über einem Jahr mit strengen Kontaktbeschränkungen. Im Alltag wird uns ständig signalisiert: Abstand halten, Maske tragen! Größere Gruppen sind einfach immer noch ein ungewohnter Anblick. In Filmen oder Serien geht uns das ja ähnlich: wenn man dort viele Menschen auf engem Raum sieht, ist das seltsam. Und dann kommt noch dazu, dass einige Menschen weiterhin große Angst vor einer Infizierung haben. Weil sie zum Beispiel noch nicht geimpft wurden oder aufgrund von Erkrankungen nicht geimpft werden können oder auch, weil andere Personen in ihrem Umkreis noch nicht geimpft wurden.

hanna christiansen text

Die Psychologin Hanna Christiansen erklärt, wie man sich langsam wieder an größere Gruppen gewöhnt  – und was das mit Joggen zu tun hat.

Foto: Tilman Fischer

Wir haben auf Instagram ein Stimmungsbild unserer Leser*innen eingefangen, bei dem klar wurde, dass Treffen mit Freund*innen die meisten gerade noch viel Energie kosten. Ein Leser schreibt, er sei bei Gruppentreffen schon nach kurzer Zeit überreizt und möchte nach Hause gehen. Was kann man dagegen tun?

Man war es so lange gewohnt, seine Kontakte zu reduzieren und sich an die Regeln zu halten. Dann kann es  schwieriger werden, wieder aus sich herauszugehen. Die Hürde wird subjektiv immer größer. Einerseits ist es wichtig, dass man sich überlegt: Wo sind meine Belastungsgrenzen? Was schaffe ich und was schaffe ich nicht? Andererseits wissen wir, dass es bei depressiven Verstimmungen häufig so ist, dass die betroffenen Menschen immer weniger soziale Aktivitäten planen und sich ihre Stimmung so noch weiter verschlechtert. Aus einer psychotherapeutischen Sicht ist es also sinnvoll, sich zu aktivieren. 

Dazu passt gut eine weitere Frage aus unserer Leserschaft: Wie sehr sollte man seine Komfortzone verlassen – soll man sich selbst öfter herausfordern oder besser Nachsicht mit sich üben?

Das hängt von der individuellen Belastbarkeit und der jeweiligen Stimmung ab. Das ist so ähnlich, wie wenn man merkt, dass eine Erkältung im Anflug ist. Man kann sich dann fragen: Sollte ich mich jetzt lieber schonen? Oder kann man sich kleine Unternehmungen noch zumuten? Besonders für Personen mit einer psychischen Beeinträchtigung kann es aber sinnvoll sein, sich gezielt herauszufordern und sich mit anderen Leuten zu treffen.

„Wenn man jetzt nach den Lockerungen JOMO verspürt, ist das total in Ordnung"

In diesem Zusammenhang wird mittlerweile oft der Begriff JOMO – „Joy of missing out“ – verwendet. Also das Gegenstück zu FOMO, der „Fear of missing out“. Warum setzt das gerade jetzt ein, wo sich doch viele so lange darauf gefreut haben, wieder Menschen zu treffen?

FOMO hat viel mit normativem Druck zu tun. Die Norm vor der Pandemie war es, sich mit vielen Leuten zu treffen, möglichst viel unterwegs zu sein. Bei einigen hat das zu dem Gefühl geführt, etwas Wichtiges zu verpassen, wenn man bei einer Aktion nicht dabei war. In den letzten Monaten war aber die gesellschaftliche Norm genau das Gegenteil: Sich nicht mit vielen Leuten zu treffen und sich stattdessen zurückzuziehen. Einige haben während der Pandemie gemerkt, dass es sehr angenehm sein kann, wenn dieser soziale Druck wegfällt. Wenn man jetzt nach den Lockerungen JOMO verspürt, ist das total in Ordnung. Man muss da auf die eigenen Bedürfnisse schauen.

Eine Leserin schreibt: Mein Partner hat FOMO und will am liebsten dauernd etwas unternehmen. Ich verspüre oft JOMO und möchte lieber zuhause bleiben. Wir streiten oft deswegen. Wie soll ich damit umgehen und wie kann ich aus der Spielverderber-Rolle heraustreten?

Man muss sich zunächst einmal fragen, was die eigenen Bedürfnisse und was die Bedürfnisse des Partners oder der Partnerin sind. Aber auch: Wie kann ich auf die andere Person zugehen? So ein Wort wie „Spielverderber“ zeigt schon eine starke Bewertung. Nach dem Motto: Wenn ich jetzt nicht mitkomme, verderbe ich den anderen den Spaß. Man könnte zum Beispiel zum Partner oder der Partnerin sagen: Ich kann gut verstehen, dass du gerne ausgehen willst, aber mir ist es gerade zu viel. Geh du doch alleine aus. Beim nächsten Mal bin ich wieder dabei.

Wenn man lange keine Events mehr besucht hat, kann das anfangs sehr anstrengend sein, wie beim Joggen

Wie kann man sich denn grundsätzlich wieder mehr an Menschen, Events und soziale Aktivitäten gewöhnen? 

Manchmal kann es gut sein, sich gezielt in solche Situationen zu begeben und sich mit Freundinnen und Freunden zu treffen, um sich wieder an den Kontakt zu gewöhnen. Wenn man solche Events lange nicht mehr besucht hat, dann kann das anfangs natürlich sehr anstrengend sein. Wie beim Joggen: Wenn man lange nicht joggen war, ist das anstrengender, als wenn man regelmäßig seine Runden dreht. Man muss also einfach üben. Natürlich nur, wenn man das auch möchte.

Wahrscheinlich hilft es dann, sich erst einmal im kleinen Kreis zu treffen und sich nicht sofort in eine Gruppe mit zehn Personen zu stürzen.

Genau, im kleinen Kreis führt man auch andere Gespräche und lernt sich besser und intensiver kennen. In einer großen Gruppe kann es stressig sein, immer wieder entscheiden zu müssen, mit wem man spricht. Insgesamt würde ich aber auf die Anpassungsfähigkeit der Menschen vertrauen. Wenn die Maßnahmen weiter gelockert werden, dann werden die Kontakte wieder mehr und man fühlt sich langsam wieder wohler. Das wird ein stetiger Prozess sein.

Wie kann man diese kollektive Gefühlslage psychologisch erklären? Gibt es schon Studien dazu?

Zum FOMO und JOMO nach den Corona-Lockerungen gibt es noch keine aktuellen Studien. Aber es gibt Untersuchungen zum Stresserleben der Studierenden während der Pandemie. Die BOOM-Studie der Ruhr-Universität Bochum hat zum Beispiel ergeben, dass viele Studierende während der Pandemie einer hohen Belastung ausgesetzt waren und oft das Gefühl hatten, die Kontrolle zu verlieren. Das kennen wir aus der psychologischen Forschung. Gerade kleine Stressfaktoren – die wir „daily hassles“ nennen – machen das Alltagsleben stressig. Ein Beispiel wäre der ewige Streit um das Abspülen, Aufräumen und Putzen in WGs. Wenn zu solchen täglichen Stressoren etwas wie Corona hinzukommt und Menschen das Gefühl haben, wenig Kontrolle über die Situation zu haben, dann steigt die Wahrscheinlichkeit für psychische Belastungen.

Wie lange wird es wohl dauern, bis wir uns in größeren Gruppen wieder rundum wohl fühlen?

Das ist natürlich stark davon abhängig, wie schnell geimpft wird und wie sich die Virusvarianten entwickeln. Wegen der drohenden Delta-Variante wird wahrscheinlich auch das Wintersemester an den Unis nicht normal stattfinden können. So trifft man sich dann doch wieder eher in Online-Konferenzen und hat noch nicht die Möglichkeit, sich wieder an größere Gruppen in Präsenz zu gewöhnen. Es könnte trotzdem hilfreich sein, langsam wieder mehr Kontakt zu Freundinnen und Freunden pflegen. Und es ist sinnvoll, sich einen Plan anzulegen und zu überlegen: Was möchte ich heute, morgen und in einer Woche machen? So hat man das Gefühl der Kontrolle – und muss sich weniger mit der Angst oder der Lust, etwas zu verpassen, herumärgern. Oft hilft es, sich aufzuraffen: Wenn man Freundinnen und Freunde trifft, geht es einem danach oft besser.

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