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Warum man nicht versuchen sollte, ein „guter Mensch“ zu sein

Fotos: Miguel Bruna/Unsplash; dpa; Grafik: Katharina Bitzl

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Es fing harmlos an. Ich war auf die Webseite „Codecheck“ gestoßen, als ich nach Alternativen für mein Deo mit Aluminium suchte. Bei Codecheck kann man seine Produkte auf Schadstoffe überprüfen lassen. Das Prinzip ist einfach: Wenn der Kreis neben dem Produkt grün leuchtet, ist alles gut, wenn Teile davon rot sind, nicht. Aus Neugier tippte ich alles ein, was ich im Alltag benutzte und zu mir nahm: Duschgel, Mascara, meinen Lieblingsjoghurt. Als ich mir dann die Liste aus „krebserregend“, „mindestens ein Tierversuch zeigte Tumorbildung“, „enthält Palmöl“ ansah, wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan. Mit meinem Lebensstil hatte ich anscheinend nicht nur mich selbst, sondern alle anderen Menschen auf diesem Planeten ins Verderben gestürzt. Wieso nur war ich all die Jahre mit der blauäugigen Hoffnung „Wird schon alles passen“ durch die Welt gelaufen? 

Ich spürte das nahende Ende, wenn ich nicht radikal alles änderte. Also codecheckte ich ab diesem Zeitpunkt alles, was mir in die Finger kam. Zwar geriet die Webseite schon damals in Kritik, weil ihre Einschätzungen auf zweifelhaften Quellen basierten – manche der von Codecheck als bedenklich eingestuften Dinge sind laut den Originalquellen gar nicht so bedenklich. Aber davon wollte ich damals nichts wissen. Also durchforstete ich die Läden teilweise stundenlang nach den vorgeschlagenen Alternativen. Ich fühlte mich schlecht, wenn ich nach Hause ging und mein Weltzerstörer-Produkt weiter benutzen musste. Und meine Freund*innen waren von meinem neuen Hobbys genervt, weil ich auch noch anfing, abfällige Kommentare über ihr Essen oder ihre Kosmetik zu machen. 

Rückblickend fällt mir auf, dass meine Codecheck-Sucht in einer Zeit aufkam, als ich den Drang verspürte, ein moralisch einwandfreier Mensch zu sein. Ein „guter Mensch“. Ich verstand dieses Bestreben als Antwort auf meine Fragen, die ich mir in Zeiten der Unsicherheiten und Zweifel stellte: Ich war mitten in der Quarter-Life-Krise, ich wusste nicht, ob mein Studium passte, wo ich beruflich hinwollte, welche Partei meine Interessen wirklich vertritt. Gleichzeitig sah ich im Fernsehen Bilder von einstürzenden Fabrikhallen, in denen Menschen an meinen Klamotten nähten. Auf Seiten von Tierschutzorganisationen schaute ich mir Videos von Orang-Utans mit klaffenden Wunden an, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, damit neue Palmölplantagen entstehen konnten. In Zeitschriften las ich über Meerestiere, die qualvoll an unserem Plastik verenden. 

Um nicht weiter an dieser Zerstörungsmaschinerie mitzuwirken, fing ich an, jede meiner Handlungen auf negative Konsequenzen zu untersuchen. So wollte ich sichergehen, dass niemand auf meinem Fußabdruck ausrutschte. Ich wollte wissen, ob meine Bank in die Waffenindustrie investiert, was das Unternehmen, dem meine Wohnung gehörte, noch so treibt, welche Klamottenlabels ökologisch sind und woher meine Bananen kommen. 

Kein Produkt aus meinem Alltag genügte meinen moralischen Ansprüchen

Mit der Zeit kristallisierte sich jedoch heraus, dass ausnahmslos kein Produkt aus meinem Alltag meinen moralischen Ansprüchen genügte. Meine Zahnbürste, meine Schuhe, meine Matratze, mein Esstisch – an allem klebte das Blut anderer Lebewesen. Als ich knietief in der Materie steckte, wurde mir klar, dass ich mein Ziel unmöglich erreichen konnte, außer, ich würde mich in Luft auflösen. Mit meinem zaghaften Bestreben ein guter Mensch zu sein, hatte ich nur die Spitze eines Eisbergs entblößt.

  

Es fiel mir schwer, aber ich musste mir eingestehen, dass eine gerechte Welt eine Utopie ist, die ich nicht durch Mitleid herbeizaubern konnte. Ich fühlte mich ohnmächtig. Ich hatte das Gefühl, nichts bewirken zu können, wenn ich die schlechten Sachen aus meinem Leben verbannte. Dafür gab es einfach zu viele „schlechte“ Sachen in meinem Leben. Kurz überlegte ich, einfach ein „schlechter Mensch“ zu bleiben. Doch dann verwarf ich den Gedanken. Es musste doch einen Weg geben, etwas gegen die schlechten Dinge in dieser Welt zu tun!

Geholfen hat mir schließlich, mich an eine Szene aus meiner Kindheit zu erinnern. Ich kam weinend mit einer Matheklausur nach Hause. Wochenlang hatte ich, eine solide Fünfer-Schülerin, mich eingesperrt, um zu lernen, und alles, was dabei herauskam, war ein „befriedigend“. Ich fühlte mich unglaublich dumm und hilflos. Daraufhin ermahnte mich meine Mutter, erst mal anzuerkennen, dass ich überhaupt besser geworden war. Sie sagte, ich solle jeden Fortschritt anerkennen, anstatt direkt nach den Lorbeeren zu greifen.

Ich würde nicht so weit gehen und das Bestreben, ein guter Mensch zu sein, mit einer verfehlten Matheklausur gleichzusetzen. Aber es ist etwas Wahres dran, dass man seine Möglichkeiten ausloten sollte, bevor man in Aktionismus verfällt. Denn wenn man ständig einem Ideal hinterherrennt, das man nicht erreichen kann, führt das dazu, dass man irgendwann aufgibt.

Niemand ist frei von Fehlern – und das ist gut so, sonst würde die Menschheit niemals dazulernen

Leider kommt die Entscheidung für kleine Schritte zu einer besseren Welt nicht immer gut an. Wenn jemand beispielsweise beschließt, kein Fleisch mehr zu essen, weil er etwas Gutes für das Klima tun möchte, muss er sich in neun von zehn Fällen anhören, dass er oder sie dann auch aufhören soll, Honig zu essen oder Leder zu tragen. Der ewige Vorwurf lautet: Doppelmoral. Aber den halte ich für unnötig, weil es immer besser ist, etwas zu tun als nichts zu tun. In meinem Freundeskreis habe ich außerdem die Beobachtung gemacht, dass solche Argumente auffällig oft von Menschen kommen, die keine Vegetarier sind. Das könnte daran liegen, dass sie sich indirekt von jemandem kritisiert fühlen, der etwas boykottiert, was sie nicht boykottieren. Wenn man dann Fehler findet, auf denen man herumreiten kann, fühlt man sich in seiner Weltanschauung bestätigt. Wäre es nicht für alle Beteiligten klüger, positives Engagement zu würdigen, egal, in welcher Form es daherkommt?

Niemand auf dieser Welt ist frei von Fehlern und das ist gut so, ansonsten würde die Menschheit niemals dazulernen. Der „gute Mensch“ ist ein Ideal, das wir niemals zu hundert Prozent erreichen können. Deswegen sollten wir aufhören, „gute Menschen“ sein zu wollen und stattdessen versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten Gutes zu tun. 

Wenn ich im Supermarkt an der Kasse die Plastiktüte weglasse, weiß ich, dass das allein keinen „guten Menschen“ aus mir macht. Ich weiß allerdings auch, dass jeden Tag Millionen von Menschen die Welt mit kleinen Beiträgen wie diesem ein wenig besser machen. Und das ist sehr viel besser, als an den eigenen Ansprüchen zu verzweifeln.  

* Dieser Text wurde erstmals am 13.08.2018 und am 08.05.2021 noch einmal als Best-Of veröffentlicht.

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