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Wie man politische Diskussionen führt, ohne den Familienfrieden zu gefährden

Illustration: FDE

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Ich sitze gemütlich mit meinem Vater in der Sonne, als er plötzlich sagt: „Durch die Politik ändert sich auf der Welt ja eh nichts mehr.“ Fast verschlucke ich mich an meinem Kaffee und kann ihn ein paar Sekunden lang nur anstarren. „Die Politik“? Das klingt ja fast so, wie wenn Populist*innen über „die da oben“ oder „die Elite“ sprechen. Und denkt mein Vater wirklich, wir wären in Deutschland noch auf demselben Stand wie vor 50 Jahren?

Nach dem ersten Schock zähle ich verzweifelt die aktuellen Beispiele auf, die mir einfallen, um seine These zu widerlegen: Rechte für Homosexuelle, Diesel-Fahrverbote, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und die Umsetzung des Volksbegehren Artenvielfalt. Ein großer Fehler, denn damit kann ich ihn nicht umstimmen. Im Gegenteil: Wir beginnen zu streiten. Und landen am Ende in einem grundsätzlichen Konflikt zwischen einem meist konservativen älteren Mann, der sich vom Staat bevormundet fühlt, und einer jungen Studentin, die einen hoffnungsvollen und teilweise naiven Blick auf die Welt hat.

So wie mir geht es vielen Menschen. Politische Diskussionen können sehr anstrengend sein. Besonders dann, wenn das Gegenüber eine komplett andere politische Meinung vertritt. Wenn dieses Gegenüber auch noch jemand ist, von dem*der man großgezogen wurde und mit dem*der man, ob man will oder nicht, lebenslang verbunden ist, wird es besonders schwierig.

Gerade bei politischen Themen denke ich teilweise völlig anders als meine eigenen Eltern

Theoretisch prägt die eigene Familie entscheidend das eigene Weltbild. Umso mehr hat es mich überrascht zu erkennen, dass ich gerade bei politischen Themen teilweise völlig anders denke als meine eigenen Eltern und Verwandten. Dass ich damit nicht alleine bin, zeigt eine Studie, die 2018 vom Pew Research Center durchgeführt wurde. Die Forscher*innen befragten darin US-Amerikaner*innen zu politischen Differenzen in ihrer Familie. Dabei gab mehr als ein Drittel der Befragten an, fast niemanden oder nur ein paar Familienmitglieder zu haben, die dieselbe politische Position vertreten wie er*sie selbst. Nur 22 Prozent der US-Bürger*innen leben laut dieser Studie in einer Familie, in der fast alle dieselben politischen Ansichten vertreten. Fast alle. Selbst da ist also noch Spielraum für anstrengende Diskussionen.

Was die Studie nicht verrät: Wie geht man eigentlich mit damit um, wenn Familienmitglieder komplett unterschiedliche politische Positionen vertreten? Diskutiert man Meinungsverschiedenheiten offen aus oder ignoriert man sie der familiären Harmonie zuliebe? Ich persönlich wähle bisher lieber den zweiten Weg. Ich vermeide Auseinandersetzungen und Streit mit Menschen, die mir wichtig sind und mit denen ich mir weiterhin eine harmonische und liebeserfüllte Beziehung wünsche. Und auch damit bin ich keine Ausnahme. In einer dänischen Studie von 2015 fanden die Forscher*innen heraus, dass junge Menschen, die politisch ganz anders denken als ihre Familie oder Freund*innen, seltener mit diesen über Politik diskutieren.

Diskussionen, die man als gefährlich oder anstrengend wahrnimmt, vermeidet man lieber

Aber ist das auch die richtige Lösung oder einfach nur feige? Um das herauszufinden habe ich mit David Lanius gesprochen. Er ist Streitforscher am DebateLab des Karlsruher Instituts für Technologie und Mitgründer des Forums für Streitkultur. Er sagt, dass die meisten Menschen so handeln wie ich. Denn Diskussionen, die man als gefährlich oder anstrengend wahrnimmt, wolle man, vor allem in der Familie, nun mal eher vermeiden. Mein Verhalten sei also normal und nicht mal unbedingt falsch – zumindest nicht auf einer emotionalen und sozialen Ebene. Gleichzeitig sagt er aber: „Aus einer demokratischen Perspektive ist es natürlich schon problematisch, weil so bestimmte Konflikte, die ja offensichtlich da sind, nicht ausdiskutiert werden können.“ Verdränge man Unstimmigkeiten, anstatt sie anzusprechen, führe das am Ende womöglich zu einer viel größeren Eskalation und zu einer Entladung all der aufgestauten Wut.

Ich fühle mich ertappt, denn diese Situation kenne ich genau. Ich spreche zwar fast nie von selbst politische Themen an und ignoriere, wenn möglich, die beiläufigen Bemerkungen meiner Familie zum politischen Weltgeschehen. Wenn ich aber direkt auf etwas angesprochen werde – wenn sich mein Vater beim Kaffeetrinken über Veganer*innen lustig macht oder meine Tante nach zwei Gläsern Wein gegen das Maske-Tragen plädiert – kann ich einfach nicht anders. Dann muss ich kontern. Was dann zu einer stundenlangen Diskussion führt, zu schlechter Stimmung bei allen Anwesenden und zu einer noch größeren Verweigerungshaltung bei zukünftigen Diskussionen. Um das zu vermeiden, rät Streitforscher Lanius dazu, nicht erst dann zu diskutieren, wenn man sich nicht mehr zurückhalten kann, sondern schon früher, „wenn man ein bisschen ruhiger und gefasster ist und vielleicht auch schon vorher weiß, was man sagen will“.

Anfangs weiß man meistens noch gar nicht, was der*die andere wirklich sagen will

Das ist in der Theorie zwar vollkommen nachvollziehbar. Aber wie stelle ich das konkret an – zum Beispiel, wenn mein Vater gegen „die Politik“ wettert? David Lanius versteht zwar, dass ich im ersten Moment so fassungslos und wütend reagiert habe. Er sagt aber auch, dass man diesen Impuls lieber unterdrücken sollte. Immerhin wisse man anfangs meistens noch gar nicht, was der*die andere wirklich sagen will.  Stattdessen solle man also erst einmal zuhören und versuchen herauszufinden, was wirklich hinter der Aussage steckt. Und dabei vor allem echtes Interesse zeigen, denn: „Wenn ich nichts vom anderen lernen möchte, brauche ich nicht mit ihm zu diskutieren“, so der Diskussionsforscher.

Das bedeute nicht, dass man allem widerspruchslos zustimmen muss oder soll. Es gehe mehr darum, den Worten der*des anderen erst einmal Raum zu geben und dann inhaltlich dagegen zu argumentieren, anstatt sich emotional in einen Konflikt hineinzusteigern. Meinem Vater hätte ich damals vielleicht auch erstmal genauer zuhören können. Ich hätte herausfinden sollen, wie er seine Aussage genau gemeint hat und hätte dann reflektiert etwas antworten können. Zum Beispiel: „Papa ich stimme dir zu, dass da nicht alles super läuft und es gibt Sachen, die verändern sich nicht, oder zumindest nicht schnell. Aber eine Pauschalkritik an der Politik finde ich schwierig, weil ...“.

Wenn Vorurteile im Spiel sind, ist Zuhören und Reflektieren besonders wichtig

Zuhören und Reflektieren ist vor allem dann wichtig, wenn Vorurteile im Spiel sind. Ich komme aus einer Nicht-Akademiker-Familie und darauf bin ich stolz. Trotzdem habe ich studiert und auch darauf bin ich stolz. Ich sehe meinen Vater nicht oft und wir haben komplett unterschiedliche Vorstellungen vom Leben – darüber sind wir uns beide bewusst. Ich habe keine Vorurteile ihm gegenüber und er vermutlich auch nicht gegenüber mir. Aber wir haben beide Angst, dass es doch anders sein könnte und trauen uns wahrscheinlich deshalb nicht, offen miteinander zu sprechen. Das ist völlig unbegründet, denn manchmal sind wir uns dann doch ziemlich einig. Immerhin sprechen wir gerne und oft darüber, dass wir beide der Umwelt zuliebe lieber aufs Fahrrad oder in den Zug statt ins Auto oder in den Flieger steigen. Und darüber, wie wenige Ladestationen es für E-Autos immer noch gibt, könnten wir uns stundenlang gemeinsam auslassen.

Vielleicht hätte ich das nicht hier in diesem Text, sondern damals nach der Diskussion direkt zu meinem Vater sagen sollen. Um nicht mit negativer Stimmung aus einer Diskussion zu gehen, sei es wichtig, Fehler einzugestehen, meint David Lanius. Dann fühle sich der*die Diskussionspartner*in ernst genommen und auch einem selbst gehe es dann viel besser. Auch, wenn man sich nicht einig wird und man merkt, wie tief der Graben zwischen den unterschiedlichen Positionen ist, hat man als Familie doch trotzdem noch extrem viel, was einen verbindet. Meinen Vater und mich verbindet unter anderem unser Humor. Der Diskussionsforscher schlägt deshalb vor, einen Witz zu machen (den beide Seiten verstehen), um die Situation am Ende wieder aufzulockern. Oder einfach zu sagen: „Vielleicht werden wir auch morgen noch darüber streiten und vielleicht auch in einem Jahr noch. Das ist aber gar nicht schlimm, denn eigentlich mögen wir uns ja.“

Kurz zusammengefasst – so reagierst du auf politische Konflikte in der Familie:

  • Unstimmigkeiten früh genug ansprechen, um spätere emotionale Eskalationen zu vermeiden. Schon vor dem Gespräch überlegen, was man genau sagen will. 
  • Erst einmal vorurteilsfrei zuhören, echtes Interesse signalisieren, den Gesprächspartner ernst nehmen. 
  • Bei inhaltlichen Streitpunkten ruhig und sachlich argumentieren, reflektiert antworten, emotionale Ausbrüche vermeiden.
  • Um eine Diskussion zu beenden, die Aufmerksamkeit wieder auf Gemeinsamkeiten lenken oder die Situation durch einen Witz auflockern. 
  • Politische Konflikte nicht auf die zwischenmenschliche Beziehung übertragen.

*Unsere Autorin möchte nicht, dass alle Leser*innen wissen, was ihr Vater politisch denkt. Deswegen bleibt sie in diesem Text anonym, ist der Redaktion aber bekannt.

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