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Meine erste Bürgerversammlung

Illustration: Federico Delfrati

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Dass ich mit meinem stadtpolitischen Engagement schon am Eingang scheitern würde, hätte ich nicht erwartet. Topmotiviert und mit schrecklich gutem Gewissen war ich an diesem Novemberabend zur Dreifachturnhalle in München Sendling gestapft. Der Anlass: die Bürgerversammlung. Ein Feierabend im Dienste der Demokratie, gleichzeitig das erhoffte Gefühl, im Viertel als aktiver Einwohner anzukommen. Ich würde über die durch einen neuen städtischen Konzertsaal ins Viertel einbrechende Bussi-Bussi-Gesellschaft herziehen, mich in nachbarschaftlicher Solidarität für all die stark machen, die unter dem Mangel an Kitaplätzen, hohen Mieten und der Gier von Investoren leiden. Und so weiter. Leider war ich dafür am falschen Ort.

Ein Mann am Eingang verlangt nach meinem Ausweis, kein Problem, bin ja sogar umgemeldet, habe einen neuen Sticker auf dem Personalausweis, der mich als Sendlinger ausweist. Er wiederholt drei Mal den Namen meiner Straße und schaut mich dann fragend an. Ich bringe nur ein „alles ok?“ heraus, woraufhin er mich informiert, dass das hier die Bürgerversammlung des Bezirks nebenan ist. Sendling-Westpark. Wie ein Kind, dem gerade erzählt wurde, dass es keinen Weihnachtsmann gibt, will ich das erst einmal nicht hinnehmen. „Aber, die Turnhalle... ich... sie ist doch fast nebenan“, stottere ich. Warum ist mein Viertel bitte in zig willkürliche Bezirke unterteilt? Und warum findet die verdammte Versammlung des verdammten Nachbarbezirks nicht im verdammten Nachbarbezirk statt, sondern hier, in meinem? „Da hom’s koa Dreifachhalle“, erläutert der Mann nüchtern. Auf die Frage, ob ich trotzdem rein darf, antwortet er:„Wenn’s woin. Ham’s aber koa Stimmrecht.“ Na großartig. Da raffe ich mich auf, mal endlich in die Stadtpolitik einzutauchen – und schaffe es dann gerade mal zum unmündigen Zuschauer.

Ich bin natürlich absolut selbst schuld, die Versammlung meines Bezirks hat in der Vorwoche stattgefunden. Aber dieses Zuschauer-Gefühl in der Politik, glaube ich, haben viele, zumindest auf Bundesebene, darüber hinaus sowieso. Ab und an wählen, ansonsten kaum Einfluss, „die da oben“ machen eh, was sie wollen. Bürgerbeteiligung in diesem Land ist sicherlich ausbaufähig, auch ich glaube, dass sich durch sie die Entfremdung vom politischen System und angeblichen allmächtigen Eliten mildern ließe.

Veränderungen sind auf der kommunalen Ebene machbar und direkt spürbar

Und die Stadt ist dafür der perfekte Ort. Im spanischen Barcelona zum Beispiel haben sich in den Krisenjahren mehrere Bürgerinitiativen zu einer Plattform namens „Barcelona en Comú“ zusammengetan, sie stellen nun die Bürgermeisterin. Mit ihrem partizipativen Politikstil, wöchentlichen Treffen in jedem Viertel zu jedem lokalen Kleinstthema und somit einem echten Gefühl von Beteiligung wurde dort in wenigen Jahren die Stadt umgekrempelt: Man hat dem Massentourismus erste Schranken gesetzt und große Pläne von autofreien Vierteln, einem Ende der Mietspekulation und anderen – zumindest für einen Münchner – absolut utopischen Ideen in die Nähe der Wirklichkeit geholt. Die Veränderungen sind auf der kommunalen Ebene machbar und direkt spürbar. Als ich für eine Reportage mit engagierten Bürgern von Barcelona sprach, flog ich relativ beflügelt nach Hause und nahm mir vor, mich künftig auch selbst stadtpolitisch einzubringen – sofern möglich. Das war vor zwei Jahren. Naja, Hauptsache, ich sitze jetzt hier in der Bürgerversammlung, wenn auch ohne Stimmrecht.

Die Halle ist gut gefüllt, bestimmt an die 300 Leute, Durchschnittsalter etwa 50, aber auch ein paar jüngere Menschen. Zunächst begrüßt ein Vertreter der Stadt die Anwesenden, dann präsentiert der Bezirksausschuss-Vorsitzende eine Art Jahresbilanz inklusive Ausblick aufs kommende Jahr. Oder eher: Eine Art „Das haben wir dieses Jahr wieder nicht geschafft, aber es dauert bestimmt nicht mehr lang“-Bilanz. Die Unmittelbarkeit, die so eine Bürgerversammlung vermittelt, gerät offenbar spätestens auf der nächsthöheren Ebene ins Stocken. Die Lärmschutzwand an der Autobahnauffahrt – unklar, Geduld bitte. Eine neue Trambahnlinie, die sogenannte Westtangente – ungefähr 2026. Aber, und hier hört man echten Stolz in der Stimme des Bezirksausschuss-Vorsitzenden: Die lange geforderten öffentlichen Toiletten am Partnachplatz sind bald fertig, „noch vor Weihnachten ist es soweit.“

Er erzählt außerdem von der feierlichen Eröffnung eines neuen Tunnels, einer schönen Maifeier am Luise-Kieselbach-Platz und der weiterhin erfolgreichen Integration von Flüchtlingen. Nach ihm spricht der Leiter der Polizeiinspektion 15 (die auch meinen Bezirk einschließt!), natürlich in Uniform. Kriminalitätsmäßig sei alles in Ordnung, die Straftaten auf dem Niveau vom Vorjahr, weniger Raub- und Sexualdelikte. Er berichtet von neuralgischen Unfallstellen im Viertel, warnt vor Alkohol am Steuer. Dann erzählt er von einigen Einbrüchen nahe des Westparks und rät dazu, seinen Briefkasten im Urlaubsfall stets leer zu halten und seinen Hausschlüssel auch nicht in selbigem zu verstecken. Und wenn er dabei ständig mir bekannte Straßennamen erwähnt, kommt mir mein Viertel als Zuhörer plötzlich näher vor, die Stadt wird überschaubarer, kieziger.

Ich schäme mich fast, dass ich hier niemanden kenne

Auf den Polizisten folgt eine Runde von Anträgen durch Bürger. Thematisch geht es recht bunt zu, nachdem die ersten zwei Antragsteller ein Verbot von Böllern zu Silvester fordern („Für lärmsensible Wildtiere gibt es kein Entrinnen!“), wünscht sich der dritte das genaue Gegenteil. „Ich hoffe, dass wir uns hier im Viertel die Freiheit bewahren“, sagt der bärtige Mann. Das Stadtleben bedeute ja auch Lärm, wer das nicht wolle, solle eben aufs Land ziehen.

Während über das Für und Wider von Raketen diskutiert wird, blicke ich mich um und fühle mich den Menschen hier irgendwie nahe, fast wie ein Teil einer Schicksalsgemeinschaft. Ich schäme mich etwas, dass ich hier niemanden kenne. Wie bei einem Familienfest, bei dem man plötzlich die Namen seiner Verwandten vergessen hat. Gut, ist zwar nicht ganz mein Bezirk, aber Sendling-Westpark ist ja auch Sendling. Schade eigentlich, dass diese Versammlung nur einmal im Jahr stattfindet.

Die weiteren Anträge handeln von 30er-Zonen, barrierefreien Bahnhöfen und noch mehr Lärmschutzwänden. Die Antragsteller sprechen routiniert und geschliffen, wie Parteipolitiker. Ich glaube, sie hätten kein Problem damit, das hier regelmäßig zu machen. Gleichzeitig scheint ihnen auch bewusst zu sein, dass die Umsetzung ihrer Anträge mindestens dauern wird, falls die anstehende Abstimmung darüber überhaupt positiv ausfällt. Ein Lärmschutz-Verfechter lässt seinem Frust freien Lauf: „Da hat man eine gute Idee, dann wird das für einen Haufen Geld untersucht, und am Ende wird dann doch lieber gar nichts gemacht!“

Letztendlich fühlt sich die Bürgerversammlung eben doch eher nach einem symbolischen Akt an. Beschlossene Anträge sind nicht mehr als eine Empfehlung an den Stadtrat und zuständigen Bezirksausschuss. Zumindest muss dieser die Anträge innerhalb von drei Monaten „behandeln“. Ein bisschen enttäuscht verlasse ich kurz vor Ende die Veranstaltung. Um große Themen wie Verdrängung oder den Ausverkauf ganzer Viertel zu diskutieren, ist die Bürgerversammlung als jährliche Veranstaltung wohl zu träge. Und ich als Bürger wohl auch einfach nicht so sehr „am Ball“. Noch habe ich es ja nicht mal geschafft, zur richtigen Versammlung zu gehen. Und muss auf die richtige bis nächstes Jahr warten. Was sowohl ich, als auch die Bürgerversammlung also brauchen: Regelmäßigkeit. Und Verbindlichkeit. Ob wir beide Zeit und Muße dafür haben? An mir soll es nicht scheitern.

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