Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Der Kampf gegen Rassismus ist genauso wichtig wie der gegen Covid“

Unsere Gesprächspartner*innen Wandi aus Deutschland, Tayino aus Belgien und Stefan aus den USA.
Foto: privat, #soulfoodmama; Bearbeitung: jetzt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Vor einem halben Jahr, am 25. Mai 2020, wurde der Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota von einem Polizisten getötet. Der Vorfall brachte die „Black Lives Matter“-Bewegung (BLM), die sich schon seit 2013 gegen ungerechtfertigte Polizeigewalt und für die Rechte Schwarzer und People of Color (PoC) einsetzt, erneut auf die Straßen der USA. Und erstmals hatte der gewaltsame Tod eines Schwarzen in den USA auch ganz konkrete Auswirkungen auf Europa: Zehntausende Menschen protestierten europaweit gegen Rassismus, allein in Paris waren es am 13. Juni mehr als 20 000. BLM wurde zur internationalen Bewegung.

Was hat sich in dem halben Jahr nach dem Tod von George Floyd getan? Was haben die Proteste bewirkt? Und wie haben sie sich verändert? Das haben wir die BLM-Aktivist*innen Tayino aus Belgien, Wandi aus Deutschland und Stefan aus den USA gefragt.

„Alltagsrassismus muss ich nicht mit mir selbst ausmachen”

blm demo protokolle portraits wandi

Foto: privat

Wandi Wrede, 23, ist Aktivistin und Mitorganisatorin der Großdemo in Köln am 6. Juni 2020, an der mehr als 15 000 Menschen teilnahmen. Bei weiteren Kundgebungen trat sie als Rednerin auf, außerdem engagiert sie sich online und in mehreren Initiativen und Vereinen gegen Rassismus.

„Ich verstehe total, dass BLM und die ersten Demos rückblickend wie ein ‚Hype‘ wirken. Das Thema war aktuell und die Leute wollten deshalb dabei sein. Damit die Bewegung Anklang findet, mussten auch so viele da sein. Das hat BLM die Aufmerksamkeit gebracht, die wir wollten. Das Ganze herunterzuspielen und als ‚Hype‘ abzustempeln, weil jetzt nicht mehr so viele dabei sind, finde ich falsch. Wir stehen eben noch am Anfang, trotzdem haben wir durch den 6. Juni schon einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht.

Vorher hat kaum jemand über Rassismus geredet – und dann kam plötzlich mein Chef zu mir und meinte, er möchte Rassismus in der Arbeit thematisieren. Es wird über Diskriminierung an Schulen geredet und aufgeklärt. Allerdings fehlt es in Deutschland noch an Studien und konkreten Zahlen zu dem Thema. Deshalb ist es auch so wichtig, dass der Rechtsanwalt Blaise Francis El Mourabit sich für Opfer von Rassismus einsetzt und zum Beispiel die Studie der Uni Bochum zu ungerechtfertigter Polizeigewalt unterstützt, in der es auch um das Thema Diskriminierung geht.

Alltagsrassismus war und ist ein Teil meines Lebens. Ich habe mich mit meiner Cousine, mit der ich die Demo unter anderem organisiert habe, früher oft darüber aufgeregt, aber wir dachten uns: ‚Niemanden interessiert es, wie wir uns deshalb fühlen.‘ Und als ich an diesem Tag diese Tausenden Menschen sah, dachte ich mir: ‚Ok, Wandi, es interessiert unnormal viele Menschen und total vielen geht es genauso wie dir.‘ Es war überwältigend. Ich wusste nicht, wie sehr ich das gebraucht habe zu dem Zeitpunkt. Alltagsrassismus muss ich nicht mit mir selbst ausmachen. 

Sich vor allem als Betroffene mit Rassismus und Diskriminierung auseinanderzusetzen, ist ein Full Time Job. Alltagsrassismus überhaupt selbst zu erfahren, ist die eine Sache, aber sich aktiv dagegen einzusetzen, kostet extrem viel Energie. Die Leute, die auf die Demos gehen, sind dementsprechend Power-People. Denen ist die Agenda an sich wichtig. Dadurch ist unsere Community auch so viel aktiver geworden und vernetzt sich. Wir arbeiten zum Beispiel daran, Straßen umzubenennen. Mit unserer Initiative ,N-Wort stoppen‘ haben wir erreicht, dass der Kölner Stadtrat das N-Wort offiziell als rassistisch anerkennt und daher ächtet. Außerdem haben wir Petitionen gestartet, mit dem Ziel, die Kolonialgeschichte in den Schulen richtig einzubringen. 

Die ganze Arbeit lohnt sich total, weil unsere Community präsenter wird. Black Businesses werden erfolgreicher und sichtbarer, genau wie Musiker*innen und Künstler*innen, die beispielsweise von Galerien unterstützt werden. Und das sind alles junge Leute! Das sind meine Leute, mit denen ich als Kind zusammen gespielt habe, mit denen ich nie über Rassismus gesprochen habe. Und plötzlich siehst du sie aufblühen, weil sie durch diesen Aktivismus so unterstützt werden! Es tut mir richtig gut, solche Ideen in meiner Freizeit unterstützen zu können. Deshalb war dieses Jahr für mich trotz Corona so toll. Wir sind so stark geworden und wir wissen, dass wir noch viel erreichen können.“

Ich fürchte, es könnte wie bei einem Film sein: Das Sequel ist nie so gut wie das Original!

blm demo protokolle portraits tayino

Foto: #soulfoodmama

Tayino Cherubin, 38, aus Belgien, arbeitet für eine soziale Organisation, die sich um benachteiligte Jugendliche kümmert, und ist als Freiwilliger bei Change ASBL aktiv, einer NGO für belgische Jugendliche mit afrikanischen Wurzeln. Im Juni 2020 hat er den BLM-Protest in Brüssel mit organisiert.

„Dass George Floyd zu einem weltweiten Symbol für Rassismus und Polizeigewalt geworden ist, liegt nicht daran, dass ein Schwarzer Mann von einem Polizisten getötet wurde, denn das passiert – vor allem in den USA – sehr häufig. Es liegt daran, dass der Polizist fast neun Minuten lang auf seinem Nacken kniete. Das hat viele Menschen sehr mitgenommen. 

Anfang Juni haben wir eine spontane Aktion mit etwa 70 Teilnehmer*innen im Stadtzentrum von Brüssel gemacht: Wir sind auf dem Place de Brouckère auf die Knie gegangen, haben unsere Fäuste erhoben und eine Minute geschwiegen, für George Floyd und alle Opfer von Polizeigewalt. Es waren auch Polizist*innen dort, die zum Teil gelacht und gesagt haben: ,Ihr wisst schon, dass wir hier nicht in den USA sind?‘

Anschließend haben sich viele Menschen bei uns gemeldet und gesagt, dass wir doch auch eine große Demo organisieren könnten. Die auf die Beine zu stellen war sehr viel Arbeit, ich habe jede Nacht maximal vier Stunden geschlafen. Es gab so viel zu klären, zum Beispiel, ob wir mit der Polizei kooperieren oder nicht, und es gab kleinere Konflikte, weil Einzelpersonen sich in den Vordergrund drängen wollten. Der Bürgermeister von Brüssel hat uns unterstützt, die belgische Premierministerin wollte die Versammlung wegen der Pandemie verbieten – natürlich hatten wir auch selbst Sorge deswegen. Aber der Kampf gegen Rassismus ist genauso wichtig wie der gegen Covid-19.

Nur eine Woche nach unserer ersten Aktion fand am 7. Juni der ,Black Lives Matter‘-Protest am Brüsseler Justizpalast statt. Wir haben mit 3000 Menschen gerechnet, laut Polizei waren es am Ende 10 000! Es war historisch, der erste Protest für Schwarze Menschen in Belgien überhaupt. Toll war auch, wie viele, die noch nie mit Aktivismus zu tun hatten, geholfen haben, und wie viele verschiedene Menschen gekommen sind. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine über 80-jährige Dame, die dabei war. Das hat mich sehr berührt.

Es war super, dass wir mit dem Protest so viel Aufmerksamkeit auf das Thema lenken konnten. Trotzdem ist das nur ein ganz kleiner Schritt im Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus in Belgien. Es ging uns bei der BLM-Demo letztlich weniger um Polizeigewalt und mehr um den strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft. Wir kämpfen gegen Diskriminierung und dagegen, dass immer noch versucht wird, die Kolonialgeschichte unseres Landes an den Schulen und im öffentlichen Bewusstsein klein zu halten. Es wäre ein riesiger Fortschritt, wenn der Satz ,Es gibt kein Belgien ohne den Kongo‘ endlich für alle selbstverständlich wäre. Wir müssen uns unserer Geschichte und des Einflusses der Kolonialisierung bewusst sein und den öffentlichen Raum entkolonialisieren.

Unser Netzwerk ist über den Sommer gewachsen, mehr Menschen verfolgen unsere Arbeit oder wollen sich engagieren. Im Moment ist es etwas ruhiger, das liegt natürlich auch an Covid-19. Wir nutzen die Zeit, um zu lesen und uns fortzubilden. Einmal im Monat haben wir ein Zoom-Meeting, in dem wir uns austauschen und Pläne für das kommende Jahr machen. Im Sommer wurde eine parlamentarische Kommission eingesetzt, die die Kolonialgeschichte aufarbeiten und bis 2021 Maßnahmen gegen Diskriminierung erarbeiten soll. In diesen Prozess sind wir als Organisation eingebunden und im Kontakt mit den Expert*innen. Im April soll außerdem eine Reise mit 15 Jugendlichen kongolesischer Herkunft in den Kongo stattfinden, die sich dort mit anderen jungen Menschen austauschen und etwas über die Geschichte ihrer Vorfahren lernen werden. Wir überlegen auch, ob wir im kommenden Jahr wieder einen BLM-Protest in Brüssel organisieren. Aber es ist noch nichts entschieden. Ehrlich gesagt war es schon sehr anstrengend und ich fürchte, es könnte wie bei einem Film sein: Das Sequel ist nie so gut wie das Original!“

„Jetzt ist es an der Zeit, dass die Demokraten ihre Versprechen einhalten“

blm demo protokolle portraits stefan

Foto: privat

Stefan Antoine, 26, ist in Jamaika aufgewachsen und lebt seit seinem Abitur in den USA. Er arbeitet im Bereich der Entwicklungsfinanzierung bei einer Bank und setzt sich dort dafür ein, dass sich die Arbeitsbedingungen für Schwarze verbessern.

„Als Black Lives Matter 2013 gegründet wurde, studierte ich gerade in New York City. Damals war Trayvon Martin von George Zimmerman umgebracht worden, der schließlich freigesprochen wurde. Ich würde nicht sagen, dass sich die Bewegung seitdem sehr stark verändert hat, sie ist nur sehr viel größer geworden. Doch die Probleme sind noch immer die gleichen. So oft haben wir schon gesehen, wie Schwarze von der Polizei umgebracht wurden. Doch als wir zusehen mussten, wie George Floyd minutenlang auf dem Boden lag, bis er tot war, hat das noch einmal sehr viele Leute aufgerüttelt und mobilisiert, sich gegen diese Ungerechtigkeit auszusprechen. Während der letzten Monate wurde diese Bewegung stark politisiert und hat auch wegen der Präsidentschaftswahl sehr viel Aufmerksamkeit bekommen.

Das einzig Positive, was Trumps Präsidentschaft gebracht hat, ist wohl, dass Menschen gemerkt haben, in was für einem System wir leben. Dass Menschen, die eher gleichgültig gegenüber diesen Dingen waren, gesehen haben, wie viel eigentlich falsch läuft, wie groß die Ungleichbehandlung gegenüber Schwarzen ist und dass etwas dagegen unternommen werden muss. Black Lives Matter ist eine Bewegung, die als Ziel Gleichberechtigung hat, die gegen Apartheid ankämpft, die es auch in den USA gab und die man noch immer sehr stark spürt. Wenn du dich nicht dafür einsetzt oder dich sogar diesem Ziel entgegen stellst, solltest du dich fragen, wofür du dann eigentlich kämpfst.

An dem Tag, an dem bekannt wurde, dass Joe Biden der neue Präsident sein wird, war ich in New York. Es war unglaublich. Die Leute haben auf der Straße gefeiert, gesungen, getanzt, es gab Champagner. Es hat sich angefühlt wie eine Befreiung. Klar wird jetzt nicht automatisch alles gut, weil Trump weg ist, aber die Demokrat*innen und Joe Biden haben sich öffentlich zu den Forderungen von BLM bekannt, anstatt die Bewegung als böse oder kommunistisch darzustellen. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Demokrat*innen ihre Versprechen einhalten. Und wir müssen überprüfen, ob sie ihrer Verantwortung gerecht werden. Ich habe die Hoffnung, dass Kamala Harris als Vizepräsidentin darauf achten wird, dass diese Themen nicht vergessen werden. 

In den USA muss sich noch sehr viel ändern. Dabei glaube ich gar nicht, dass die Reform der Polizei der dringendste Ansatzpunkte ist. Klar, die Polizei hier ist komplett überfinanziert, die sind ausgestattet wie das Militär, es gibt viel Racial Profiling. Aber mindestens genauso wichtig ist es, die Lebensumstände von Schwarzen in den USA zu verbessern. In Wohnvierteln, in denen überwiegend Schwarze wohnen, erkranken die Menschen häufiger an Krebs, es gibt schlechtere Ausbildungsmöglichkeiten, in der New York Times habe ich neulich gelesen, dass es in manchen dieser Viertel durchschnittlich 15 Grad wärmer ist, weil es keine Parks gibt, keine Bäume und sie zu eng bebaut sind. Das mindert die Lebensqualität enorm. Meiner Meinung nach wäre es gut, dort anzusetzen. Wenn es in diesen Vierteln ein bisschen kühler wäre, dann würde auch das Blut der Polizisten vielleicht nicht ganz so schnell hochkochen.

Ich persönlich bin wegen der Pandemie nicht allzu oft auf Demonstrationen gegangen. Aber ich habe in meiner Arbeit mit Kolleg*innen ein Taskforce gegründet, um die Probleme, die es bei uns in der Firma gibt, anzusprechen und zu verändern. Bei uns arbeiten nur sehr wenige Schwarze. Es werden zu wenige Schwarze eingestellt und wenn sie eingestellt werden, sind sie schnell wieder weg. Das muss sich ändern und der CEO unserer Firma hat sich mit uns zusammengesetzt, hat uns zugehört und möchte auch etwas ändern. Gerade sind wir dabei, unsere Lösungen umzusetzen. Ob sie erfolgreich sein werden, wird sich zeigen. Aber ich habe auf jeden Fall das Gefühl, dass wir gehört wurden und die Probleme ernst genommen werden.“

  • teilen
  • schließen