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Wir müssen hier raus

Die Isar ist in den vergangenen Wochen für viele junge Münchner*innen eine Art Zufluchtsort vor der Pandemie geworden.
Foto: Peter Kneffel/dpa

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Der Streifenwagen bleibt einfach auf dem Radweg stehen. Ein Mann und eine Frau in Uniform steigen aus, die Türen knallen zu. Ihr Ziel scheint klar: Keine zwanzig Meter vor ihnen, auf der Reichenbachbrücke am Isarufer von München, steht eine Gruppe von Jugendlichen. Man hört Electro und Hip Hop aus ihrer Bluetooth-Box wummern. Einer in der Mitte der Gruppe lässt seinen Körper auf dem Boden drehen und sich kurz darauf auf seine Arme fallen. Die anderen schauen ihm beim Tanzen zu, in weiten Hosen, Batik-Shirts und mit dunklen Brillen gegen die Abendsonne. Ob es acht oder zehn Leute sind, die da zusammenstehen? Lässt sich schwer sagen, weil mal einer dazukommt und mal einer geht. Weil sie sich bewegen und weil alles ein bisschen durcheinander läuft. Nur eines steht fest: Für einen Nachmittag Anfang März im Jahre 2021 sind sie zu viele.

Nun, da die Polizei nicht weit von ihnen entfernt steht, ist erstmal Schluss mit dem Tanzen. Die Gruppe hält jetzt etwas mehr Abstand und schielt die Polizei aus dem Augenwinkel an. Später werden sie sagen, dass ihnen klar sei, dass das, was sie tun, verboten ist. Dass sie wissen, dass man dafür zahlen muss – bis zu 250 Euro laut dem Bayerischen Corona-Bußgeldkatalog

„Eigentlich sind mir die Regeln mittlerweile komplett egal“

Aber die Polizeistreife interessiert sich überhaupt nicht für sie. Sie scheint sie nicht mal wahrzunehmen. Die zwei Uniformierten biegen ab Richtung Isarufer und lassen die Breakdancer in Ruhe. Glück gehabt.

Michael, 25, ist einer von ihnen. Bob-Marley-Shirt, langes dunkles Haar. „Wir achten auf alles“, sagt er, und schaut dabei recht ernst, auch wenn er sein Grinsen nicht ganz verbergen kann. Denn so richtig ernst nehmen sie es mit den Regeln natürlich nicht. Die Gruppe kuschelt zwar nicht miteinander und teilt sich auch nicht die Wasserflaschen. Aber sie hängen eben miteinander ab, hauen Fäuste aneinander, schlagen ein. Tauschen Geschichten über ihren derzeit eher öden Alltags aus und nebenbei auch das eine oder andere Aerosol. 

Würde Christian Drosten nun in der Nähe stehen, er hätte vielleicht den Daumen gesenkt, zumindest aber die Mundwinkel. Davon beeindrucken lassen würde sich die Gruppe wohl eher nicht. „Ich muss sagen, dass ich ehrlich gesagt keine Lust mehr habe auf die Regeln“, sagt einer, der neben Michael steht. „Eigentlich sind mir die Regeln mittlerweile komplett egal.“

An diesem milden Spätnachmittag an der Isar in München sieht man jene, die es nicht mehr drinnen hält. Da sind die Spaziergehenden, die allein mit dem Hund unterwegs sind. Die Freundinnen mit ihren Coffee-To-Go-Bechern. Die händchenhaltenden Paare. Vor allem aber sieht man die vielen Gruppen von Jüngeren, die mal zu fünft sind, mal zu acht oder auch mal zu zehnt. Sie sind Regelbrecher und man könnte sie als Rebellen bezeichnen. Aber wenn man mit ihnen darüber spricht, merkt man: Mit Attila Hildmann wollen sie so wenig zu tun haben wie mit anderen selbsternannten Querdenkern. Ihr Protest hat keinen Sprecher und keine Forderungen. Dafür hat er einen Zustand: Resignation. 

Die Jungen hier wollen ihre „besten Jahre“ nicht mehr nur mit sich selbst verbringen, sondern raus gehen, unter Leute. Die 14-Jährige, die endlich knutschen will. Der 17-Jährige, der keinen Ausbildungsplatz findet und mit anderen darüber schimpfen will. Die 18-Jährige, die jetzt abends einen Whisky-Cola mehr trinkt, weil beim Homeschooling eh kein Lehrer ihre Fahne riecht. 

Seit einem Jahr haben sie sich mit Unterbrechungen eingeschränkt. Gingen nicht mehr zur Schule. Trafen keine Freunde mehr, und schon gar nicht ihre Uromas. Auf die erste Welle folgten Lockerungen im Sommer, auf den Sommer folgte der endlose Winter. Sie haben verzichtet. Seit ein paar Tagen aber kommt immer länger die wärmende Sonne raus, und sie treibt sie wie ein Magnet nach draußen. 

Sie sehen brav aus. Aber sie sind zu siebt – mehr als doppelt so viele wie erlaubt

Fünf Spazierminuten entfernt von den Breakdancern sitzt eine weitere Gruppe. Sieben schmale Gestalten, alle zwischen 16 und 21, wie sie sagen. Unter ihnen liegen ausgebreitete Picknickdecken und Übergangsjacken. Der Boden ist noch feucht, der Winter noch nicht ganz verschwunden. Auch sie sehen nicht nach Aufstand aus, sondern eher brav in ihren weißen, pastellfarbenen und schwarze Sachen. Vor ihnen liegen Spielkarten. Die Graswolke kommt von der Gruppe nebenan. Harmloser geht es kaum. Aber sie sind eben zu siebt – und das ist zur Zeit mehr als doppelt so viel wie erlaubt. 

Erst vor ein paar Minuten hätten sich die beiden kleinen Gruppen spontan zu einer großen Gruppe zusammengesetzt, sagen sie. Davor kannten sie sich nicht. Wie es ihnen geht? „Es ist eine Larifari-Mentalität“, sagt die eine von ihnen über sich und meint damit auch ihre Generation. Sie selbst ist 16, geht aufs Gymnasium und hat ihr zweites Augustiner-Bier nun halb leer getrunken. Vor ein paar Wochen habe sich was verändert, stimmt ihr die Runde zu. Die Sonne. Das gute Wetter. „Da kann man nicht mehr drin bleiben.“

Ihr gegenüber sitzt ein 17-Jähriger, sie lächeln einander an. Vielleicht hätten sie sich schon längst kennengelernt, hätten wir vergangenes Jahr nicht das Jahr 2020 sondern das Jahr 2019 gehabt. Vielleicht hätten sie miteinander geknutscht. Vielleicht wären sie ein Paar geworden und vielleicht hätten sie sich auch schon längst wieder getrennt. Aber wie soll man das ahnen oder wissen, wenn man mit Fremden seit Monaten keinen Kontakt mehr aufnimmt? „Ich habe seit einem Jahr keine Leute kennengelernt“, sagt sie. „Wenn man Single ist, ist man am Arsch“, sagt er.

Natürlich, beteuern sie nun alle in der Gruppe, achten sie darauf, auf unnötige Kontakte zu verzichten. „Wenn ich meine Oma besuche, chille ich die zwei Wochen davor nur mit einer Person“, sagt eine. Aber dann sagt sie auch, dass sie eben bei der Deutschen Bahn arbeitet, wo sie sowieso mit vielen Leuten zu tun hat. Ein anderer sagt, er arbeite bei einer Bäckerei. Und wenn die beiden bei der Arbeit schon so viele Kontakte mit Leuten haben – warum darf man dann nicht ein paar seiner besten Freunde treffen? „Es wird krasser werden mit den gebrochenen Regeln“, sagt der 17-Jährige. „Ich gehöre selbst zur Risikogruppe, ich habe Asthma, aber was soll ich machen?“ Die Runde nickt ihm zu. Dann nimmt er sein Feuerzeug aus der Tasche und steckt sich eine Selbstgedrehte an.

Die Sonne senkt sich hinter dem Isarufer, es wird allmählich kühler. Aber die Wodka- und Whiskey-Flaschen der Gruppe, die fast direkt am Ufer und zu zehnt beisammen sitzt, sind noch gut gefüllt und kreisen. „Man sieht vielleicht, wir sind nicht die emotional Stabilsten“, sagt der erste von ihnen, der Anfang 20 ist und mit seinem wuseligen Bart zugleich der Bärtigste in der Runde ist und so etwas wie der Sprecher der Gruppe. Die anderen sind zwischen 16 und 23, sie tragen karierte Hemden, sehr viel schwarz und Bandshirts. Früher hätte man sie Emos genannt. Auch sie sind eine zu große Gruppe. Und wenn man sie danach fragt, wie es ihnen geht, warum sie gegen die Regeln verstoßen, hören sie gar nicht mehr mit dem Reden auf.

„Man ist so isoliert, dass es einem das nicht mehr wert ist, allein rumzuhängen.“

„Normalerweise wäre ich jetzt in Indien.“

„Es ist so scheiße schwer, gerade eine Ausbildung zu finden.“

„Die Ausgangsbeschränkungen waren das, was uns am meisten gefickt hat.“

„Wir sind jung und dumm und wollen feiern gehen.“

„Ich habe durch Corona viele Freundschaften verloren, weil ich viele einfach nicht mehr sehen konnte.“

„Feiern ist nur was für gute Zeiten, sagen viele. Aber das stimmt überhaupt nicht! Feiern wäre jetzt so wichtig, in schlechten Zeiten.“

„Wir sind der unbedachte Kollateralschaden.“

„Wenn wir Corona bekommen, ist es nach drei Tagen sowieso überstanden.“

„Ich will nicht mit Corona-Leugnern zu tun haben. Was soll ich denn gegen ein Virus demonstrieren?“

Die Sonne ist nun fast verschwunden auf den Isarauen, aber die Gruppe wird noch eine Weile hier sitzen bleiben. So gut wie niemand schaut auf sein Handy. Sie lachen, trinken zu starke Whisky-Sprite-Mischen, ziehen an ihren E-Zigaretten. Was auch immer die Ministerpräsidentinnen, Jens Spahn und Angela Merkel heute, morgen oder sonst wann erlauben und verbieten werden, es soll erst dann wieder eine Rolle spielen, wenn sie zurück zu Hause sind.

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