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Die vielen jungen Stimmen für die Liberalen sind kurzsichtig

In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz hat die FDP bei den jungen Wähler*innen deutlich zugelegt. Zu Recht?
Foto: Adobe Stock; Bearbeitung: jetzt

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Auf den ersten Blick ist es nicht verwunderlich, dass die FDP bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz mehr junge Wähler*innen überzeugt hat als noch 2016. Während damals in Baden-Württemberg noch acht und in Rheinland-Pfalz sechs Prozent der unter 25-Jährigen die FDP wählten, waren es in diesem Jahr 13 beziehungsweise neun Prozent der unter 30-Jährigen. Damit hat sich die FDP-Alterspyramide in diesen beiden Bundesländern gedreht: Es sind nicht mehr die Alten, die der Partei die meisten Stimmen bescheren, sondern die Jungen.

Es sind die Menschen, die die Pandemie nicht unbedingt gesundheitlich trifft, aber sozial. Die im Kinderzimmer vor dem Laptop sitzen statt in der Berufsschule oder mit Hunderten Gleichaltrigen in einem Hörsaal. Die mit kleinen Kindern im Home-Office verzweifeln. Es sind Menschen, die sich von der Corona-Politik der schwarz-roten Bundesregierung vernachlässigt fühlen. Bei der CDU und der SPD ist die Alterspyramide bei beiden Wahlen umgekehrt. 

Hätte der Markt es wirklich besser geregelt? Vermutlich nicht

Dass für diese Menschen eine Partei attraktiver geworden ist, die als einzige (außer der AfD) konsequent auf Lockerungen pocht und nicht zu denen gehört, die es auf Bundesebene in Sachen Pandemie-Bekämpfung auf so vielfältige Weise versaut hat, liegt nahe. Es ist aber auch sehr kurzsichtig. Klar, der Lockdown, der in abgeschwächter Form immer noch gilt, nervt – im besten Fall. Im schlimmsten Fall bedroht er die Existenz vieler Betriebe und Selbständiger trotz der staatlichen Hilfen. Aber was bringen Lockerungen, wenn wir am Ende von einem Lockdown zum nächsten taumeln und dabei immer öfter hinfallen? 

Die FDP mag nicht an den offensichtlichen Fehlentscheidungen in der Pandemie beteiligt gewesen sein. Aber hätte sie es wirklich besser gemacht? Hätte der Markt es wirklich geregelt? Dass Aldi schneller Schnelltests unter die Leute gebracht hat als die Regierung, lässt das so aussehen. Doch auch Aldi konnte den Bedarf nicht decken und hat auf die Schnelle einen Test auf den Markt gebracht, mit dem man sich ganz einfach ein negatives Ergebnis faken kann. Schnell und marktgerecht heißt eben nicht immer gut und durchdacht.

Die Pandemie hat vielen gezeigt, wie schnell man unverschuldet ohne Job dastehen kann

Und da ist noch eine wichtige Frage, die von den Impf- und Lockdown-Diskussionen überlagert wird und auf die der Liberalismus keine schlagkräftige Antwort hat: Wie kommen wir jungen Menschen langfristig gut durch diese Krise – und durch mögliche weitere pandemiebedingte Krisen? Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Leistung und Eigenverantwortung nicht mehr ausreichen, wenn ein Virus – oder auch jedes andere unvorhersehbare Ereignis – die eigenen Pläne durchkreuzt. Viele junge Menschen mussten im vergangenen Jahr erleben, wie schnell man unverschuldet ohne Job dastehen kann. Solange es nur ein kleiner Nebenjob parallel zu den Vorlesungen an der Uni ist, lässt sich das vielleicht noch durch BAföG oder die Unterstützung der Eltern ausgleichen. Aber eben nur so lange.

Dazu kommt, dass die junge Generation heute mit ganz anderen Voraussetzungen ins Arbeitsleben startet als noch ihre Eltern und Großeltern – mit schlechteren. Auch in einer Akademikerfamilie aufzuwachsen, zu studieren und fleißig zu arbeiten, ist keine Garantie mehr für ein sorgenfreies Leben – auf jeden Fall nicht für eines im Eigenheim und mit einer Rente, die einen mit den vielen Überstunden versöhnt. Dazu kommt, dass die Bildungschancen in Deutschland nach wie vor davon abhängen, ob man in eine arme oder in eine wohlhabende Familie geboren wurde. Und dass die Pandemie die soziale Ungleichheit verschärft, geht alle etwas an: Denn eine finanziell gespaltene Gesellschaft polarisiert sich auch eher und vergrößert die Gruppe derer, die lieber an Verschwörungsmythen als an die Demokratie glauben.

Nicht einmal die SPD, deren Kernthema eigentlich soziale Gerechtigkeit ist, hat gerade wirklich überzeugende Antworten auf all diese Probleme und Fragen. Eine Partei, die auf Markt und Eigenverantwortung setzt, hat sie aber noch weniger. Auf jeden Fall ist nicht nachvollziehbar, wie zum Beispiel die Forderung, das Mindestlohngesetz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge abzuschaffen, oder beim Thema Wohnungsnot auf das „Kapital und das Engagement privater Investoren“ zu setzen, gegen prekäre Verhältnisse und soziale Ungerechtigkeit helfen sollen. Beides steht seit Juli 2020 im Wahlprogramm der FDP in Baden-Württemberg.

Dabei hat die FDP sicher auch gute und wichtige Ansätze im Angebot: eine ernstzunehmende Digitalisierung oder weniger Bürokratie im Gesundheitswesen etwa. Und ihre Forderung, die Wirtschaft so schnell wie möglich wieder zum Laufen zu bringen, könnte vielen kurzfristig helfen, zum Beispiel den jungen Gründer*innen, die die Pandemie besonders hart trifft. Aber: Die Pandemie wird früher oder später vorbeigehen – die soziale Ungleichheit bleibt und wächst weiter. Dagegen hilft nur echte Solidarität, kein Markt, der am Ende nur wenige wirklich belohnt. Wenn man jung ist und gute Startbedingungen hat, lässt sich das alles noch leicht verdrängen. Offenbar selbst dann, wenn eine Pandemie es einem eigentlich noch stärker vor Augen führen sollte.

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