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„Mich schockt nicht mehr viel“

Immer mehr Kinder und Jugendliche suchen Rat per Mail.
Foto: polya_olya / Adobe Stock; Bearbeitung: jetzt

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Die Pandemie bedeutet für Kinder und Jugendliche auch, auf oft engem Raum viel Zeit mit der Familie zu verbringen. Das kann eine Belastung sein: Viel mehr junge Menschen wenden sich an Hilfsstellen, wie zum Beispiel die JugendNotmail. Sie ist eine ehrenamtliche und gemeinnützige Organisation, die seit Juli 2020 zur Stiftung für Kinder-, Jugend- und Soziale Hilfen gehört. Die Beratung findet ausschließlich auf einer datensicheren Online-Plattform statt, auf der sich Kinder und Jugendliche vertraulich registrieren können. Über Notruf-Mails kann man das Problem ausführlich beschreiben oder in Einzel-Chats nach schneller Hilfe und Ratschlägen fragen. 

Im vergangenen Corona-Jahr hat JugendNotmail 15 000 Nachrichten gezählt. Das ist eine Steigerung um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 

Fachleiterin Ina Lambert koordiniert die 170 ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Online-Beratung. Sie erklärt im Interview, wie die Pandemie die Probleme junger Menschen verschlimmern kann und wie JugendNotmail versucht, ihnen zu helfen.

jugendnotmail portrait

Ina Lambert ist die Fachleitung der JugendNotmail. Sie betreut die Mitarbeiter*innen, führt die Einführungsworkshops und Fortbildungen durch.

Foto: JugendNotmail/Andrea Katheder

jetzt: Welche Probleme haben für Kinder und Jugendliche während der Pandemie stark zugenommen?

Ina Lambert: Die Pandemie löst bei jungen Menschen Zukunftsängste aus. Viele haben noch keine Orientierung und dann einen Ausbildungs- oder Studienplatz zu finden, ist beispielsweise schwierig. Dazu kommt die Unsicherheit, wann die Pandemie vorbei ist. Das betrifft nicht nur Jugendliche, sondern auch die Erwachsenen, die ihre Sorgen um Job und Geld schnell auf ihre Kinder übertragen. Diese übernehmen oft die Ängste ihrer Eltern. Außerdem fehlt der sichere Rahmen des Alltags; die Schule fällt weg und die Kinder sehen ihre Freunde kaum noch.

Wie kann eine Beratung via E-Mail da helfen?

Über die Notruf-Emails sind wir rund um die Uhr erreichbar. Unsere beratenden Mitarbeiter können jederzeit, wann und so lange sie wollen online gehen. Dadurch müssen die Jugendlichen zuerst nur schreiben – und können so schon einmal alles loswerden. Ihre Gefühle und Gedanken bekommen wir sehr ungefiltert zu lesen – was auch oft sehr schlimm sein kann, wie beispielsweise Suizidgedanken. Viele sagen, dass sie lieber schreiben als sprechen und persönliche Psychotherapie eine so große Hürde für sie darstellt. Wir wollen den Jugendlichen ermöglichen, sich durch eine erste positive Online-Erfahrung auch vor Ort zu trauen, Hilfe zu suchen. Egal ob es doch eine Therapie, das Jugendamt oder Freunde und Familie sind. Wir können immer nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten.

Wie alt sind die Kinder und Jugendlichen, die sich bei Ihnen melden?

Die meisten sind zwischen 15 und 17. Mit der neuen Einzelchat-Beratung erreichen wir mittlerweile aber auch verstärkt jüngere, 12- bis 14-Jährige.

Wie viele Jugendliche melden sich täglich bei Ihnen?

Im Moment beginnen wir zwischen fünf und 15 neue Beratungen täglich. Dazu kommen die Mails von Jugendlichen, mit denen wir schon im Austausch sind. 2020 haben wir insgesamt im Vergleich zu vor der Pandemie 20 Prozent mehr Einzelberatungen durchgeführt.

„Viele fürchten und schämen sich, über ihre Gefühle zu sprechen“

Melden sich viele Jugendliche und Kinder regelmäßig?

Auf jeden Fall. Das lesen wir oft in unseren Notrufen, also den ersten Mails, die an uns geschrieben werden.

Wie deuten Sie das, dass sich viele wiederholt bei Ihnen melden?

Sich generell bei uns zu melden, egal wie oft, zeigt grundsätzlich Stärke. Diese Jugendlichen haben sich überwunden, jemandem zu vertrauen.

Wie gehen die meisten Kinder und Jugendlichen mit ihren Problemen um?

Viele schreiben in den Beratungen, dass sie sich in ihrem Umfeld nicht trauen zu erzählen, wie es ihnen wirklich geht. Auf der einen Seite wollen die jungen Menschen gesehen, akzeptiert und verstanden werden. Andererseits fürchten und schämen sich viele, über ihre Gefühle zu sprechen oder sich vor Ort Hilfe zu suchen.

Wie reagieren Sie, wenn jemand Suizidgedanken äußert?

Online können wir die Person nicht sehen. Wir wissen also nicht, wie unsere Fragen wirken oder wo das Kind überhaupt steht. Deshalb ist es natürlich schwierig zu beurteilen, ob jemand wirklich akut suizidgefährdet ist. Dabei gibt es ein paar Kriterien, auf die wir achten, beispielsweise in was für einem Umfeld sich das Kind befindet. Wir empfehlen auch Hilfe vor Ort weiter oder Angebote wie die Telefonseelsorge oder die Nummer gegen Kummer, was persönlicher sein kann als die JugendNotmail. Wir müssen offen sein und Fragen stellen: „Wie konkret ist deine Lage? Was stellst du dir vor? Planst du deinen Suizid schon?“ Wenn wir dabei von einem Suizidplan erfahren, müssen wir das der Polizei melden.

„Mich schockt nicht mehr viel“

Haben manche Kinder und Jugendlichen Angst, von ihren Eltern oder Familie erwischt zu werden, weil sie sich an die JugendNotmail wenden?

Daten haben wir auch dazu keine, aber gelesen haben wir das sehr oft. Gerade wenn es um Themen wie Gewalt in der Familie oder Suchterkrankungen der Eltern geht. Kinder, die davon betroffen sind, wissen meistens, dass diese Informationen nicht nach außen dringen sollten. Manche Eltern schränken auch die Privatsphäre ihrer Kinder sehr ein. Bekommen die den Hilferuf der Jugendlichen mit, gibt es oft Ärger.

Gibt es Fälle, die Sie besonders mitgenommen haben?

Das hört sich vielleicht krass an, aber mich schockt nicht mehr viel. Wir lesen so viel, mittlerweile denke ich mir: Es gibt nichts mehr, was es nicht gibt. Dramatische Schicksale, wie sexueller Missbrauch durch den Bruder beispielsweise, berühren einen als Beraterin aber natürlich doch.

Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem Sie unmittelbar helfen konnten?

Eine 16-Jährige, die in einer ländlichen Region lebte, hatte sich wegen ihrer gewaltvollen Mutter an uns gewendet. Das Mädchen war fest entschlossen zu gehen, wusste aber nicht, an wen es sich wenden sollte. Ihre Angst war, dass das Jugendamt sie nicht ernstnehmen und zu Hause alles noch viel schlimmer werden würde, da sie in ihrem Dorf keine Unterstützung erhielt. Ich konnte sie bestärken, Kontakt zum Jugendamt aufzunehmen, wo ihr auch geholfen wurde.

Haben Sie erfahren, wie es für sie weiterging?

Ja, sie hat nochmal geschrieben und sich total bedankt. Sie hat erzählt, dass das Jugendamt sich um eine neue Unterkunft für sie kümmert und sie durch uns die nötige Unterstützung hatte, diesen Weg zu gehen.

Gibt es einen pauschalen Ratschlag, den Sie jungen Menschen, die unter der Pandemie leiden, geben würden?

So simpel es ist: Du musst es nicht alleine schaffen! Du kannst dich an uns und an andere Online-Beratungen wenden. Vielleicht bekommst du auch Unterstützung aus deinem Freundeskreis oder dem Umfeld? Teil es mit, wenn es dir schlecht geht, nur dann kann sich etwas ändern. Und ganz wichtig: Hilfe anzunehmen ist eine Stärke und keine Schwäche!

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