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„Wahnsinn, was hier los ist!!!“

Große Menschengruppen während einer Pandemie kann man durchaus blöd finden – aber dann sollte man sie meiden und nicht heimlich fotografieren.
Foto: Peter Kneffel / dpa; Bearbeitung: jetzt

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Die dritte Corona-Welle ist da, zeitgleich mit den ersten warmen Frühlingstagen – und damit auch wieder diese schrecklichen Fotos! Sie schwappen erneut in unsere Twitter-Feeds und Messenger hinein und zeigen Menschengruppen am Kanalufer oder im Park, in der Fußgängerzone, auf dem Wochenendmarkt oder dem Rathausplatz. Mit diesem Hauch von Heimlichkeit in der Bildsprache, weil schräg von unten oder gar leicht verschwommen aufgenommen, und versehen mit empörten Kommentaren: „Super-Spreader-Event, ganz große Klasse!“ – „Den Leuten ist echt nicht mehr zu helfen, ey!!“ – „Wahnsinn, was hier los ist!!!“ 

Jede*r von uns hat in den vergangenen zwölf Monaten ein solches Foto entweder gemacht und verschickt bzw. gepostet oder eines zugesandt bekommen bzw. irgendwo online gesehen (Disclaimer: Hier sind explizit keine Bilder von sogenannten „Hygiene-Demos“ oder anderen Anti-Corona-Maßnahmen-Versammlungen gemeint). Das Motiv wäre vor dem Frühjahr 2020 so extrem langweilig gewesen, dass es niemandem auch nur das leiseste Gefühl entlockt hätte. Aber dann kam eben die Pandemie und Zusammenstehen oder -sitzen oder -gehen wurde riskant und teilweise sogar verboten. Es gibt seitdem die, die sich diesem Verbot beugen (oder beugen müssen), weil sie die Ausbreitung des Virus eindämmen und sich schützen wollen. Und es gibt die, die entweder so aussehen, als würden sich nicht daran halten, weil sie einfach eine sehr große Familie oder WG sind, die zusammen im Park sitzt. Oder die, die die Regeln unsinnig finden oder sozial ausgehungert sind und die Gefahr, sich und andere anzustecken, darum in Kauf nehmen. Den bewussten Regelbruch kann man natürlich blöd finden, klar. 

Heimlich fremde Leute ablichten und das Bild dann rumschicken, war schon immer daneben

Aber die „Wahnsinn, was hier los ist!!!“-Fotos, die viele gerade von diesen Menschengruppen machen, sind auf eine andere Art mindestens genauso blöd. Denn ja, natürlich sollten wir möglichst zuhause bleiben und nur wenige Personen treffen. Aber wem hilft es, wenn wir diejenigen fotografieren, die das nicht tun? Heimlich fremde Leute ablichten und das Bild dann rumschicken, um sich über sie aufzuregen, war schon immer daneben, egal, ob man saufende Urlauber*innen auf den Balearen, die Schlange vorm Arbeitsamt oder die vorm Apple-Store fotografiert hat. Einfache zwischenmenschliche Regel: Das gehört sich nicht. Punkt. Und nur, weil jetzt gerade Pandemie ist, ist es nicht auf einmal legitim. 

Diese Art von Fotos sind vor allem ein Zeichen dafür, dass jemand sich moralisch überlegen fühlt. Während einer Pandemie vielleicht sogar in besonders großem Maße. Denn jedes einzelne „Menschen sitzen im Park zusammen“-Bild mit frotzelndem Kommentar dazu will ja vor allem eines sagen: „Also, ICH würde das ja nicht machen, denn ICH mache alles richtig!“ Die Fotos sind Teil des jetzt schon ein Jahr lang währenden „Wer ist der*die beste Pandemiebürger*in“-Wettkampfs, der in Familien, Freundeskreisen und sozialen Netzwerken pausenlos ausgetragen wird. Und der niemandem, wirklich niemandem irgendetwas bringt, außer noch mehr Müdigkeit und Frust (und von beidem haben wir aktuell auch so schon genug). Vor allem aber bringt er keine Sieger*innen hervor, weil keine*r von uns in dieser verdammten Pandemie alles richtig macht. 

Und noch etwas stößt mir oft sauer auf, wenn mich solche Bilder erreichen. Denn ein Kommentar wie „Ich war heute in der Innenstadt, es war höllisch voll, die Leute spinnen doch!!“ enthält ja immer auch folgende Information: DU bist doch AUCH in die Innenstadt gegangen! DU bist eine der Personen, die die Fußgängerzone voll gemacht haben, DU warst Teil der höllischen Masse! Und ja, jetzt wirst du sagen: „Aber ich brauchte halt auch dringend noch diesen einen Pflanzkübel und bin nur in den Laden rein und gleich wieder raus!“

Die Frage ist nur: Wie viele der Menschen dort haben das genauso gemacht? Waren aus genau diesem Grund – weil halt ein Pflanzkübel / Handyladegerät / Paar Schnürsenkel fehlte – „nur mal kurz“ in der Fußgängerzone? Ich schätze: viele. Und wie viele haben sich stundenlang bummelnd dort aufgehalten oder der Verkäuferin hinter der Kasse die Maske runtergerissen und sie mit Zunge geküsst? Ich schätze: wenige. Dafür stelle ich mir vor, wie ihr Menschen in der Fußgängerzone euch alle gegenseitig fotografiert habt, um euch dann übereinander aufzuregen. Echt mal, Leute, mit so viel Einstimmigkeit kriegen wir das mit der Pandemiebekämpfung sicher richtig gut hin!

Bastelt euch halt ein Pandemie-Fotoalbum und klebt eure schicken Schnappschüssen da rein

Wenn einen Menschengruppen so sehr aufregen, hat man übrigens zwei Möglichkeiten. Entweder: hingehen und den Leuten die Meinung sagen. Aber das trauen sich die Foto-Guerillas natürlich nicht – und begründen das womöglich mit ihrem eigenen Infektionsschutz (man kann allerdings auch mit Maske und 1,5 Meter Abstand Menschen persönlich konfrontieren. Versucht’s halt mal). Oder: die Gruppen ignorieren und sich von ihnen fernhalten. Ist meistens nicht besonders schwer. Die dritte Lösung – sie zu fotografieren und dann vor anderen zu beschimpfen – ist keine. Sie gehört sofort abgeschafft. 

Oder ihr bastelt euch halt ein Pandemie-Fotoalbum und klebt eure schicken Schnappschüsse da rein. Dann könnt ihr sie in drei Jahren nochmal angucken und schauen, ob ihr euch dann immer noch gut damit fühlt. Vermutlich wird das nicht der Fall sein. Weil es dann einfach nur noch schlechte Fotos sein werden, die nichts, aber auch gar nichts dazu beigetragen haben, dass diese Pandemie irgendwann vorbeigegangen ist.

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