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Schüler*innen-Gruppe „Keine Schule ohne Feminismus“ fordert Geschlechtergerechtigkeit im Schulsystem
Tische rücken. Das muss man als Schüler*in häufig. Wenn Lehrer*innen eine neue Sitzordnung ausprobieren wollen, weg von Tischreihen, hin zum Hufeisen. Oder wenn Gruppenarbeiten und besondere Events anstehen. Sibel hat das von Anfang an genervt. Nicht wegen der Sache an sich, sondern weil es dabei oft hieß: „Wir brauchen ein paar starke Jungs, um Tische zu tragen und ein paar Mädchen, die Tische wischen.“ Frauen sollen also putzen und Männer Möbel schleppen? Diese Rollenverteilung war Sibel unverständlich. Deshalb habe sie sich manchmal gleich zwei Tische unter die Arme geklemmt. Aus Protest.
„Mit solchen Kleinigkeiten fing es an“, sagt Sibel, 16, heute und meint damit die ersten Momente, in denen sie Sexismus in der Schule bewusst erlebt hat. Mit der Pubertät begannen die männlichen Mitschüler, ihr und anderen Mädchen dauernd sexistische Sprüche zu drücken. Und dann das digitale Äquivalent: haufenweise sexistische Sticker im Jahrgangs-Chat. Sie erzählt, dass sie bei Widerstand bloß zu hören bekam: „War doch nur Spaß.“ Aber lustig fanden Sibel und ihre Mitschülerinnen dieses Verhalten nicht. Sondern verletzend. Jetzt besucht Sibel die 11. Klasse, bald steht das Abitur an und blöde Sprüche gehören immer noch zum Alltag. Dabei solle die Schule doch ein Ort des Lernens sein – und nicht der Erniedrigung.
„Wir wollen, dass genderbasierte Diskriminierung in Schulen behandelt wird“
„Wir hatten das Gefühl, wir brauchen etwas, um denen die Hölle heiß zu machen“, sagt Sibel und grinst – aber nur für einen kurzen Moment, denn die Sache ist ihr ernst. Mit „Wir“ meint sie die Schüler*innen-Gruppe „Keine Schule ohne Feminismus“, die sich mit Sexismus in der Schule und im Schulsystem beschäftigt: eine feministische Aktion, durchgeführt von circa 30 Schüler*innen und gegründet an einem Berliner Gymnasium, das Sibel besucht. Seit November 2020 betreibt die Gruppe einen Instagram-Kanal. Ihr Account hat fast 4000 Follower*innen, darunter auch bekannte Autorinnen wie Margarete Stokowski und Mareice Kaiser. Die Gruppe postet dort sowohl Fotos von Protestaktionen, als auch feministische Bildungsinhalte, zum Beispiel zu Fragen wie: Was ist das Patriarchat? Oder: Was ist der Gender Data Gap?
Der Gruppe „Keine Schule ohne Feminismus“ geht es also nicht allein darum, pubertären Sexisten die Hölle heiß zu machen. Ihr langfristiges Ziel ist eine Reform des Schulsystems: Es soll geschlechtergerecht werden. Weil die Gruppe sich als intersektional versteht, möchten sie sich nicht nur gegen die Diskrimierung von Frauen, sondern zum Beispiel auch von queeren und von Rassismus betroffenen Menschen einsetzen. Zu ihren Forderungen gehören zum Beispiel ein inklusiverer Sexualkunde-Unterricht und gegenderte Sprache. Eine Toilette für nicht-binäre Menschen an ihrem Gymnasium konnten sie schon durchsetzen. Mit Sibel sind auch Marthe, 16, und Lili, 15, Teil der Gruppe. Im Video-Interview mit jetzt erklären sie, was sie verändern wollen. „Sexismus ist fest im Schulsystem verankert“, sagt Lili. Vielen sei das jedoch nicht bewusst. Das zeige sich zum Beispiel darin, dass im Biologie-Unterricht oft nur über heterosexuellen Sex aufgeklärt werde. Aber es geht ihnen auch um andere Bildungsinhalte, die sie sich auf dem Lehrplan wünschen. „Wir wollen, dass genderbasierte Diskriminierung in Schulen behandelt wird – und dass man sich auch über Präventionsmöglichkeiten unterhält“, erklärt Marthe.
„Wir wollen in der Schule anderes und anders lernen“
Anlässlich des 8. März, dem Weltfrauentag, haben „Keine Schule ohne Feminismus“ nun einen offenen Brief an Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) verfasst. Die Gruppe formuliert darin, was sich ihrer Ansicht nach im Schulsystem bundesweit ändern sollte. Geschlechtergerechter Unterricht dürfe nicht allein von einzelnen Lehrkräften abhängen, schreiben sie, sondern müsse fest in den Schulen verankert werden. Etwa durch die Ausbildung zu geschlechtergerechtem Lehren und Lernen im Lehramtsstudium, Trainings und Seminare für Lehrer*innen zum Thema Geschlechtergerechtigkeit und -vielfalt im Klassenzimmer. Was ebenfalls zwingend dazu gehört: die entsprechende staatliche Finanzierung. Im Anhang des offenen Briefes unterbreiten sie konkrete Vorschläge für die Überarbeitung des Lehrplans. Sie schreiben: „Wir wollen in der Schule anderes und anders lernen.“
Angefangen hat die Initiative „Keine Schule ohne Feminismus“ Ende vergangenen Jahres mit der „Wall of Shame“. Für diese Aktion hatten die Berliner Schüler*innen verschiedene sexistische Erlebnisse und Sprüche in ihrer Schule gesammelt, anonymisiert auf Zettel geschrieben und dann an eine Wand am Schuleingang gehängt. „Als ich im Sportunterricht stehen geblieben bin, um mir die Schuhe zu binden, sagt ein Mitschüler: ‚Boah, live Porno‘“, stand da, oder: „Als eine Mitschülerin aufs Klo wollte, sagte ein Lehrer, wenn sie nicht bauchfrei tragen würde, würden ihre Nieren nicht so frieren und sie müsste nicht auf Klo.“ Um die Mitschüler*innen und Lehrer*innen davon zu überzeugen, dass es auch an ihrer Schule Sexismus gibt. Und: Um Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind.
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In dem dazugehörigen Instagram-Post schreibt die Gruppe, so gut wie jede „Flinta“ – was für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Menschen steht – könne Ähnliches berichten. Das Problem, so Lili, sei aber, dass viele sich nicht zu wehren wissen. Das sei nicht die Schuld der Betroffenen, beteuert sie, aber: „In der Gruppe können wir uns da gegenseitig stärken“.
Sibel, Marthe und Lili sagen, die Reaktionen in der Schule auf die „Wall of Shame“ seien eher gemischt ausgefallen. Viele Lehrer*innen sollen sie sich aufmerksam durchgelesen und Unterstützung angeboten haben. Einige aber kritisierten die Aktion als „Pranger“, der Menschen anklage und damit das Anliegen ruiniere. Bei der Aktion wurden zwar keine Namen genannt, aber da viele der geschilderten Erlebnisse in Anwesenheit anderer stattgefunden haben, spricht sich vermutlich schnell herum, wer gemeint ist. Andererseits kann man für in der Öffentlichkeit getätigte Aussagen gewissermaßen mit Widerstand rechnen. „Klar ist das unangenehm für manche, aber wir wollen Leute aufwecken und nicht in den Schlaf wiegen“, erklärt Sibel. Und dafür sei die Aktion nunmal das effektivste Mittel.
14 der aufgeführten Bücher sind von Männern – und nur zwei von Frauen
Zu der strukturellen Veränderung im Schulsystem gehören für sie auch: mehr Lektüren von weiblichen und queeren Autor*innen. Der deutsche Literatur-Kanon um Goethe, Schiller & Co ist altbekannt männlich, aber auch auf den Lehrplänen im restlichen Sprachunterricht sieht es nicht diverser aus. Das zeigt beispielhaft ein Blick auf die aktuelle Leseliste des hessischen Kultusministeriums für die schriftlichen Abiturprüfungen: 14 der aufgeführten Bücher sind von Männern – und nur zwei von Frauen (dabei handelt es sich um Juli Zeh und Zadie Smith). „Keine Schule ohne Feminismus” fordert, dass sich an diesem Verhältnis etwas ändert und schlägt selbst Lektüren auf Instagram vor.
Im Gespräch mit jetzt erklärt Marthe zwar, manche Lektüre-Entscheidungen könne sie besser nachvollziehen als andere. „Im Mittelalter hatten die meisten Frauen nichts zu sagen, konnten nicht mal Lesen oder Schreiben”, sagt sie. Aber dass sie kürzlich Daniel Kehlmanns „Ruhm“ im Unterricht habe lesen müssen, das verstehe sie persönlich nicht. „Man hätte wirklich auch jedes andere zeitgenössische Buch zum Thema Identitätssuche nehmen können.“ Es gebe doch massenweise lehrreiche und inspirierende Texte von Frauen.
Fakt ist: Frauen haben immer schon geschrieben. Aber unter schwierigen Bedingungen: mit versteckten Manuskripten oder unter Pseudonym. Für Lili, Marthe und Sibel ist die Unsichtbarmachung weiblicher Autorinnen auch deshalb ärgerlich, weil es ihnen somit an Vorbildern fehlt, die es doch eigentlich gäbe. „Von klein auf wird uns vermittelt, dass Männer immer präsenter sind und mehr Reichweite haben können“, sagt Lili, und das bezieht sich nicht nur auf die Schullektüren, sondern auch auf den restlichen Unterricht. Es reicht nicht, wenn sie irgendwann auch dazu aufgefordert werden, Tische im Klassenraum von A nach B zu tragen, solange der Lehrplan im puncto Geschlechtergerechtigkeit statisch verharrt: „Wir brauchen ein Update.“