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„Wir sind die Norm und keine Nische“

Foto: Yotam Schwartz

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1957 erlangte die Union mit dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) erst- und einmalig die absolute Mehrheit. Sein Slogan damals: „Keine Experimente“. Jetzt steht eben dieser Slogan im Zentrum einer Plakataktion von acht Berliner Frauen: SPD-Politikerin Sawsan Chebli, den Schauspielerinnen Susana AbdulMajid und Muriel Wimmer, Aktivistin Elisabed Abralava, Künstlerin Elke Foltz, Performance Artist Rebecca Korang, Designerin Nazanin Ebadi und Galeristin Anahita Sadighi. Die Plakate mit den Einzel- und Gruppenbildern (fotografiert von Yotam Schwartz) hängen öffentlich in Berlin. „Wir sind nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel“, schreiben die Initiatorinnen dazu auf Instagram. Viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Sie wollen nicht mehr beweisen müssen, dass sie „deutsch genug“ sind. 

Wir haben mit der Galeristin und Initiatorin der Kampagne Anahita Sadighi gesprochen:

keine experimente 1

Galeristin Anahita Sadighi

Foto: Yotam Schwartz
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SPD-Politikerin Sawsan Chebli

Foto: Yotam Schwartz
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Schauspielerin Susana Abdul Majid

Foto: Yotam Schwartz
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Künstlerin Elke Foltz

Foto: Yotam Schwartz

jetzt: Ihr greift in eurer Aktion den CDU-Slogan „Keine Experimente“ auf. Warum?

Anahita Sadighi: Keine Experimente ist ein Anti-Slogan, der immer wieder genutzt wurde, um den Status quo zu verteidigen. Er steht für eine Abwehrhaltung gegenüber Veränderung, für Stillstand und Skepsis. Jetzt steht er gewissermaßen auch für die Verneinung von Tatsachen. Denn Deutschland wandelt sich stark, unsere Gesellschaft ist vielfältig. Wir leben in einer Zeit, in der wir den aktuellen Herausforderungen begegnen müssen. 

Und was bedeutet der Slogan dann im Kontext eurer Plakataktion?

In der Aktion geht es um eine freie, nicht-kommerzielle künstlerische Intervention, die mit Stereotypen und Erwartungshaltungen spielt. Zunächst sind wir eine Gruppe von Frauen, die größtenteils einen Migrationshintergrund haben und deren Eltern nicht deutsch sind. Das trifft jedoch nicht auf alle zu, da es in der Kampagne auch um Solidarität unter starken Frauen und Freundinnen geht. Oft hört man, gewisse Frauen hätten sich trotz ihres Migrationshintergrundes und trotz ihrer Weiblichkeit durchgesetzt. Wir wollen aber zeigen, dass es kein Handicap ist, diverse kulturelle Prägungen und Erfahrungen zu haben und eine Frau zu sein. Im Gegenteil: Es stellt ein großes, gesellschaftliches Potenzial dar. Solche Biografien haben für Deutschland im Jahr 2020 einen absoluten Mehrwert.

„Wir wollen nicht als Experimente angesehen werden“

Also ist es eher eine Art Aneignung des Slogans? 

Genau, wir haben durch unsere Aktion versucht, die Dinge etwas auf den Kopf zu stellen und Klischees zu dekonstruieren, ohne belehrend aufzutreten. Vor allem aber zu zeigen: Wir sind als Frauen mit Migrationshintergrund in wichtigen Funktionen in dieser Gesellschaft und leisten einen wichtigen Beitrag. Wir wollen nicht als Experimente angesehen werden. Es geht auch darum, künstlerisch mit dem aktuellen Diskurs um Geschlechterbilder und deren Wahrnehmung in der Gesellschaft zu spielen. Wir alle begreifen uns als Deutsche. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, ich liebe die deutsche Kultur und sehe mich als Teil der Gesellschaft. Ich muss nicht beweisen, „gut integriert“ zu sein, um ein selbstverständlicher Teil und ein Mehrwert für die deutsche Gesellschaft zu sein. Oft werden wir aber noch als herausragend oder exotisch wahrgenommen statt als „normal“.  

Wie habt ihr die Gestaltung des Plakates konzipiert? 

Wir stellen in dieser Aktion unseren Migrationshintergrund in den Vordergrund. Auf den Bildern posieren wir vor einem antiken Vorhang (Pardeh). Der Pardeh im Hintergrund ist ein äußerst seltenes Stück aus meiner Galerie Anahita Arts of Asia. Es handelt sich dabei um eine aus sechs Stoffbahnen gewebte Textilie, die im 19. Jahrhundert entstand und von kurdischen Nomaden angefertigt wurde. Diese Art von Textilien wurden ausschließlich von Frauen hergestellt, kein unwichtiges Detail und es passt natürlich super zu unserer Aktion. Die Frauen beherrschten dieses Handwerk und auch das magische Wissen um die Symbolik der Farbgebung. Der Schwarz-Rot-Goldene Vorhang ist interessanterweise in den Farben der deutschen Demokratiebewegung und der Bundesrepublik gefasst. Für mich repräsentiert der Pardeh die deutsche Wiedervereinigung und Einheit. Eine wichtige Identifikationsfläche in Zeiten von Veränderungen und neuer nationaler Identitätsfindung. 

Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli ist bei der Kampagne, die mit einem CDU-Slogan spielt, auch dabei. Wie politisch ist eure Gruppe? 

Wir sind kein politisches Kollektiv. Wir verstehen unsere Aktion eher als künstlerische Intervention zur politischen Debatte. Sawsan ist die einzige Politikerin in der Runde und fällt damit tatsächlich ein wenig aus der Reihe. Die anderen Frauen sind in der Kunst- und Kulturszene tätig, aber auch politisch engagiert. Kultur und Politik sind natürlich eng verbunden. Wir kennen uns alle untereinander und hatten die Idee für die gemeinsame Plakataktion ungefähr zu Anfang des Jahres. Ich selbst arbeite viel mit Frauen zusammen. In meiner Galerie Anahita Contemporary ist zum Beispiel derzeit die Gruppenausstellung „A Room of Her Own“ zu sehen, die die Arbeit vier junger Künstlerinnen präsentiert. Ich setze mich für eine Stärkung von weiblichen Akteurinnen in der Kreativbranche ein. Auch diejenigen, die ein ähnliches Engagement leisten, sind zu einem großen Teil weiblich und haben diverse kulturelle Prägungen und oft einen Migrationshintergrund. Aus dieser Beobachtung entstand unsere Aktion. Es ist auch erwähnenswert , dass unsere Aktion nicht kommerziell ist – wir sind alle ehrenamtlich dabei.

„Ja, wir sind Deutschland. Wir sind die Norm und keine Nische. Keine exotischen Erscheinungen sondern die Realität“

Im Tagesspiegel hast du einen kritischen Text über Vielfalt in der deutschen Kulturszene geschrieben. Darin beschreibst du eine Dinnerparty einen Tag nach dem Anschlag in Hanau. Der Anschlag wurde dort komplett ausgeblendet.

Ja, die mangelnde Solidarität an dem Abend hat mich tatsächlich etwas schockiert. Die meisten Menschen dort waren weiß und haben sich offensichtlich nicht betroffen gefühlt. Dass populistische Hetze und kaum stattfindender interkultureller Dialog den Boden nährt für Anschläge wie in Hanau, darf jedoch nicht unter den Teppich gekehrt werden. Klar, Betroffenheit bei solchen Ereignissen ist oftmals mehr mit der eigenen Identifikation mit den Opfern und vor allem der Angst um sich selbst verbunden – und weniger mit tatsächlicher Empathie. Das ist nicht nur in Deutschland so. Die Erfahrungen, die wir in der Kulturszene machen, sind denen der politischen oder wirtschaftlichen Welt ähnlich. Die mangelnde Sichtbarkeit von Diversität ist ein gesamtgesellschaftliches Problem: Man hat jedenfalls nicht das Gefühl, dass Menschen mit Migrationshintergrund und People of Color als ein wichtiger Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden. Der Pointe unserer künstlerischen Intervention ist: Ja, wir sind Deutschland. Wir sind die Norm und keine Nische. Keine exotischen Erscheinungen sondern die Realität. Solange das nicht in der Gesellschaft angekommen ist, kommen wir nicht voran. Wir wollen nicht immer wieder für Dinge kämpfen, die heute selbstverständlich sein sollten.

Wie waren denn die bisherigen Reaktionen auf die Kampagne?

Die Kampagne hat für viel Furore gesorgt. Die Reaktionen waren größtenteils äußerst positiv und unterstützend. Worüber wir uns natürlich sehr freuen! Der Anti-Slogan #KeineExperimente hat aber auch viele überrascht und neugierig gemacht. Insgesamt wurden auch die Inszenierung und die starken Aufnahmen und Portraits des talentieren Fotografen Yotam Schwartz sehr gelobt. Die Kampagne hat aber auch die Schattenseite unserer Gesellschaft ans Licht befördert. Es reicht, die Vielzahl von Hasskommentaren unter den Artikeln auf Social Media zu überfliegen, um einen Eindruck zu gewinnen, welch kontroverse Reaktion allein die selbstbewusste Darstellung von größtenteils Frauen mit Migrationshintergrund auslöst. Davon lassen wir uns jedoch nicht abschrecken. Im Gegenteil.  

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